Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 22:
Praktische Übungen
Zu weiteren Predigten fand sich in jedem der beiden folgenden Semester Gelegenheit. In Eutritzsch, eine halbe Stunde nördlich von Leipzig, war ein alter Pastor Kunad, schon ziemlich gebrechlich, besonders stark harthörig, der jeden Sommer eine Wasserkur gebrauchte. In dieser Zeit ließ er sich sonntags von Studenten vertreten. Die Predigten wurden deshalb die Wasserpredigten genannt. Wagner, Schnedermann und andere Vereinsbrüder hatten deshalb schon wiederholt dort gepredigt. In diesem Jahr waren die Wasserpredigten alle besetzt. Der alte Herr ließ sich aber auch sonst gern vertreten, und da meine Freunde ihm gesagt hatten, dass auch ich gern einmal in Eutritzsch predigen möchte, wurde mit mir vereinbart, dass ich am 8. Trinitatis-Sonntag predigen solle. Vorgeschriebener Text war Matthäus 9, 9-13. Wer vormittags predigte, übernahm dann aber auch am Nachmittag eine Bibelstunde, die gleichfalls in der Kirche zu halten war. Es war also so gut, als hätte man zwei Predigten zu halten. Ich nahm zum Text die Epistel und arbeitete die Bibelstunde unter Benutzung von Besser aus. Es gab also ziemlich viel für mich zu tun, und eingedenk jenes Diktums von Luthardt memorierte ich sehr genau. In Rosental hielt ich meine Übungen ab und predigte den Bäumen vor. Einst als ich an einem Wassergraben etwas abseits vom Wege stand, laut predigend und gestikulierend, merkte ich, wie sich mir jemand von hinten leise nahte. Er mochte denken, dass ich mir ein Leids antun wollte oder sonst nicht recht bei Sinne sei, entfernte sich aber, als er merkte, dass die Sache nicht so gefährlich sei, ebenso leise wie er gekommen war. Ähnlich war es übrigens Jentsch gegangen, der in dem Semester sich aufs Examen bereitete und, da es sehr heiß war, sich eine Hängematte angeschafft hatte, in der er, nachdem er sie zwischen zwei Bäumen befestigt hatte, sein Repetitorium absolvierte. Nun, es ging auch in Eutritzsch ganz glatt, vormittags wie nachmittags. Der alte Kunad sagte mir auch, dass er mich trotz seiner Harthörigkeit ganz gut verstanden. Wie ich früher schon bei den Wasserpredigten
hinausgegangen war, um meine Bekannten predigen zu hören, so pilgerte nun auch eine ganze Anzahl heraus, mich anzuhören. Vom Sakristeifenster aus konnte ich sie kommen sehen. Auch den Altardienst musste ich versehen. Der alte Kunad wollte, dass wir singen sollten: Der Herr sei mit uns.
Ich hielt das für verkehrt, wollte anfangs singen: Der Herr sei mit euch
, besann mich aber im letzten Augenblick eines andern, da der Organist, wie ich das früher schon beobachtet hatte, ganz konsequent respondierte: Und mit unserm Geiste
, und ich mir sagte, dass ich auf die Weise gar nichts abbekommen würde. Nach getaner Arbeit wurde im Garten gespielt. Pastor Kunad hatte eine sehr prächtige Frau, Schwester des Leipziger Theologen
TheileKarl Gottfried Wilhelm Theile (1799-1854) war ein evangelischer Theologe und Hochschulprofessor. Zwischen 1845 und 1847 gab er zusammen mit Stier eine Polyglotten-Bibel
heraus, in der die Schriften des Alten und des Neuen Testaments in verschiedenen Varianten bzw. Übersetzungen einander gegenübergestellt sind.Siehe Wikipedia.org [127] der mit StierEwald Rudolf Stier (1800-1862) war ein evangelisch-lutherischer Theologe und Kirchenlieddichter.Siehe Wikipedia.org [128] die Polyglottenbibel herausgegeben hatte. Zwei erwachsene Töchter waren auch da, und nachmittags kam verschiedene Jugend aus Leipzig und anderswoher zum Besuch. Da ging es denn ganz munter her. Als ich mich gegen Abend empfehlen wollte, sagte der alte Kunad: Steht nicht geschrieben: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden?
, und ich musste auch zum Abendessen bleiben. Ich habe dann gegen Ende des Wintersemesters, am Sonntag Quinquagesimä 1873, noch einmal in Eutritzsch gepredigt. Wir machten natürlich auch sonst sonntagnachmittags dort Besuch. Übrigens war Kunad auch ein ganz tüchtiger Theologe und verstand, auch unsere Predigten zu beurteilen.
Auch mit einer andern praktischen Übung begann ich im Sommer 1872. Ich trat als Helfer im Kindergottesdienst ein. Pastor Lehmann, um diese Zeit als Direktor der inneren Mission nach Leipzig berufen, hatte Kindergottesdienst mit Gruppensystem oder, wie es damals hieß, Sonntagsschule eingerichtet, eine in der Stadt, eine in dem benachbarten Thonberg. Gerade an diesem Ort übernahmen Studenten die einzelnen Gruppen. Sonnabendabend war in Lehmanns Wohnung Vorbereitung. Die Leitung in Thonberg hatte Lehmann gewöhnlich nicht selbst, da er den Kindergottesdienst in der Stadt zu leiten hatte, sondern ein Kandidat. Einige Male hörte ich aber auch ihn katechisieren. Und sowohl was er in seinen Katechesen als was er in der Vorbereitung gab, war trefflich. Patron der Thonberger Kirche war der Kaufmann Felix, Luthardts Schwiegervater. Er sowohl als seine Gattin, die für alle Bestrebungen des Reiches Gottes ein warmes Herz hatte und bis in ihr höchstes Alter der jährlichen Konferenz für Judenmission in ihrem Hause gastliche Aufnahme gewährte, besuchte den Kindergottesdienst in jener Zeit einmal und bewirtete die Helfer um die Weihnachtszeit einmal mit Torte und Wein. Die Thonberger Sonntagsschule wurde übrigens in der Folgezeit vom Theologischen Verein fest übernommen.
Der Sommer 1872 war insofern für mich besonders bemerkenswert, als ich in ihm mit Jentsch zusammen wohnte. Er machte, wie schon erwähnt, um diese Zeit sein erstes Examen. Da zog ich denn zu ihm in seine schöne Wohnung an der Leibnitzstraße in der Nähe des Rosentals und führte ihm den Haushalt, bereitete morgens den Kaffee und abends den Tee. Brot besorgte ich, Butter bekam er von seiner Tante, die auf der Milchinsel
Die Milchinsel war ein Garten in der Leipziger Marienvorstadt, der wegen seiner Milchwirtschaft als eines der beliebtesten Ausflugslokale galt.Siehe Wikipedia.org [129] wohnte, aber ein Gut in der Nähe von Altenburg besaß, und die wir deshalb die Buttertante nannten. Den Aufschnitt zum Abendbrot besorgten wir abwechselnd und freuten uns, wenn wir einer den andern mit etwas apartem überraschen konnten. Da es im Sommer sehr heiß war, veranlasste Jentsch den Wirt, der etwas Großzügiges hatte, einen Eisschrank anzuschaffen, und dort bewahrten wir kohlensaures Wasser auf, das wir uns kommen ließen. Zu Mittag gingen wir in die alte Burg
. Es war uns ganz interessant, wie Jentsch dort den Ton angab. Er hatte sich seinen Vollbart abrasieren und nur den Schnurrbart stehen lassen. Ein Assessor, der mit uns am selben Tisch aß, folgte sofort seinem Beispiel. Auch sonst richtete derselbe sich auffallend nach ihm. Nach getanem Tagewerk netzte sich Jentsch wohl ans offene Fenster und spielte auf seiner Violine. Es war ein wirklich ideales Zusammensein ohne Trübung. Auch theologisch wurde ich durch Jentsch gefördert. Er kannte die Theologie Hofmanns und brachte mir zuerst Verständnis derselben bei. Auch Kahnis Inneren Gang des Protestantismus
lernte ich durch ihn zuerst kennen und verschlang das Buch recht eigentlich, so dass er mir bemerklich machte, solch leichte Lektüre müsse man für die Erholungsstunden aufsparen, nicht aber in der eigentlichen Arbeitszeit treiben. Als dann seine Examenssektion gebildet war und seine Sektionsgenossen je und dann zu ihm zu Repetitionen kamen, schnappte ich auch manche Brosamen auf, die von der Reichen Tisch fielen. Öfter bekam Jentsch auch Besuch von seinem Vetter Franz Wilhelmi, der eine chemische Fabrik besaß und auf dem Grundstück seines Vaters, des Appellationsrats Wilhelmi in Reudnitz, einmal auch von dessen Schwester Elise, die er sehr liebte - wie er denn überhaupt einen ausgeprägten Familiensinn hatte - und die später seine Frau wurde.
Polyglotten-Bibelheraus, in der die Schriften des Alten und des Neuen Testaments in verschiedenen Varianten bzw. Übersetzungen einander gegenübergestellt sind.
[128] Ewald Rudolf Stier (1800-1862) war ein evangelisch-lutherischer Theologe und Kirchenlieddichter.
[129] Die Milchinsel war ein Garten in der Leipziger Marienvorstadt, der wegen seiner Milchwirtschaft als eines der beliebtesten Ausflugslokale galt.