Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 8:
Professor Hölemann
Von den übrigen Professoren habe ich in besonders dankbarem Gedächtnis den alten Hölemann. Ich hatte mich wie erwähnt bei ihm für seine exegetische Gesellschaft angemeldet. Dieselbe hatte ihr Kolleg jeden Sonnabend offiziell von halb sechs bis sieben Uhr abends. Um die Mitgliedschaft zu erwerben, musste man eine Dissertation einreichen. Dieselbe wurde vom Professor einem ordentlichen Mitglied übergeben, das damit zum Opponenten bestimmt wurde. In der nächsten Kollegstunde fand die Disputation statt, und einen der nächstens Tage darauf durfte der Disputant sich in das Album der Sozietät als ordentliches Mitglied einschreiben. Ich wählte mir als Gegenstand meiner Dissertation die Stelle Röm. 3, 23-28Brief des Apostels Paulus an die Römer, Kapitel 3 [47]. Mein Opponent war Studiosus Zinzow, ein pommerscher Landsmann, der mit mir zugleich eingetreten war, aber schon vorher die ordentliche Mitgliedschaft erworben hatte. Erst hinterher erfuhr ich, dass man, um in die alttestamentliche Gesellschaft aufgenommen zu werden, noch einmal disputieren müsse. Im Sommer darauf reichte ich deshalb eine Dissertation über den aaronitischen Segen ein. Diesmal opponierte mir Watzel, ebenfalls ein pommerscher Landsmann. Als ich bei Hölemann erschien, um mich in das Album der alttestamentlichen Sozietät einzuzeichnen, teilte man mir mit, dass ich eigentlich ein Superfluumlat. für Mehrerlös
, also mehr als gefordert [48] geleistet, dass bei einem Mitglied der einen Sozietät, um die Mitgliedschaft der andern zu erlangen, die Aufstellung von Thesen genüge. Später habe ich auch wiederholt die Rolle des Opponenten übernommen. Im Lateinschreiben und -sprechen hatte man damit reichlich Übung. Sonst war regelmäßiger Gegenstand der Verhandlungen die biblische Gotteslehre im Alten und Neuen Testament. Die Beweisstellen, die zur Verhandlung kommen sollten, ließ Hölemann jedes Mal am schwarzen Brett veröffentlichen. Wir präparierten uns danach, und dann forderte Hölemann zur Übersetzung einer Stelle nach der anderen auf, die dann besprochen wurden. Er fing stets an: Comminlitones humanissimi
und redete auch den einzelnen jedes Mal mit humanissime N. an. Es wurde deshalb auch unter uns Brauch, uns gegenseitig mit humanissime zu titulieren. Bisweilen stellte Hölemann mit uns auch andere Übungen an. Er ließ beispielsweise ins Hebräische übersetzen. So mussten wir einmal Ein feste Burg
übersetzen, ein andermal Auferstehn, ja auferstehn wirst du
, wobei er mich erst den rechten Sinn der letzten Strophe verstehen lehrte: Ach, ins Allerheiligste führt mich mein Mittler dann, lebt ich im Heiligtum zu seines Namens Ruhm
, der ja leider durch die Interpunktion in unserem hannoverschen Gesangbuch verfehlt ist.
Hölemann war überhaupt ein feiner Kopf. Er stand ja ganz auf dem Standpunkt der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts, wie das schon seine erwähnte Beweisstellenmethode erkennen lässt. Aber in manchem musste ich ihm doch Recht geben. So hat er mich von der gläubigen Annahme der Quellenscheidungs-Hypothese im Alten Testament ein für allemal kuriert. Delitzsch folgte damals im Pentateuch der Ergänzungshypothese, unterschied den Elohisten und Jahvisten, hielt aber die Reden Moses im Deuteronomium für authentisch. Nun hatte er im Beginn seiner Einleitungsvorlesung die de Watte-Schradersche Einleitung als Ergänzung seiner Vorlesungen empfohlen. Dieselbe gab aber teilweise das Gegenteil der Delitzschen Positionen. Ich kam dadurch in nicht geringe Verwirrung. Da wurde ich auf Hölemanns Schrift Die Einheit der beiden Schöpfungsberichte
, die er in Veranlassung der Kahnisschen Dogmatik geschrieben hatte, hingewiesen. Ich schaffte mir die Schrift an, und es wurde mir daraus klar, dass der sogenannte zweite Schöpfungsbericht gar kein Schöpfungsbericht war, sondern die Geschichte des Geschaffenen zu erzählen anhebe, also den ersten Schöpfungsbericht voraussetze und ohne diesen gar nicht zu verstehen sei. Auch sonst erhält die kleine Schrift verschiedenes, was geeignet ist, den Glauben an die Unfehlbarkeit der Quellenscheidung zu erschüttern. Sie ist ja überhaupt mit einer philologischen Akribie geschrieben, vor der man alle Achtung haben muss, auch wenn man sich nicht sämtliche Resultate aneignet. Zu meiner Befriedigung sprach sich auch Luthardt in seiner dogmatischen Sozietät ganz ähnlich über das Verhältnis der beiden Schöpfungsberichte aus.
Hölemann las auch in seinen sonstigen Kollegien über neutestamentliche Schriften stets in lateinischer Sprache. Alttestamentliches las er deutsch, beides, wie es im theologischen Examen in Leipzig geübt wurde. Ich habe bei ihm Hiob gehört.
In jedem Sommer veranstaltete Hölemann mit seiner Sozietät einen Spaziergang, auf dem er dieselben bewirtete. Ich entsinne mich eines solchen Spaziergangs über den NapoleonsteinDer Napoleonstein ist ein Denkmal in Leipzig, das an die Völkerschlacht im Oktober 1813 erinnert. Es befindet sich an der Stelle, von der aus Napoleon am 18. Oktober die Kämpfe der Völkerschlacht beobachtete und leitete.Siehe Wikipedia.org [49]. Hatte er wegen seiner theologischen Richtung und wegen des Lateins auch nicht viele Zuhörer, so waren dieselben dafür umso dankbarer und anhänglicher, zumal seine persönliche Milde und Freundlichkeit anziehen musste. Er war unverheiratet und sah seine Sozietät als seine Familie an.
[48] lat. für
Mehrerlös, also mehr als gefordert
[49] Der Napoleonstein ist ein Denkmal in Leipzig, das an die Völkerschlacht im Oktober 1813 erinnert. Es befindet sich an der Stelle, von der aus Napoleon am 18. Oktober die Kämpfe der Völkerschlacht beobachtete und leitete.