Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 24:
Reise nach Hamburg und Lübeck
Anfang August bestand dann Jentsch sein Examen, dieses Ereignis wurde zunächst im Hause seines Onkels in Reudnitz gefeiert, wozu ich auch eingeladen wurde.
Dann machten wir gemeinsam eine Reise nach Hamburg. Ich hatte längst den Wunsch gehabt, einmal die Hansestädte Hamburg und Lübeck kennen zu lernen. Ein Stipendium, das ich mir durch ein Examen erworben und das ich deshalb für mich verwenden durfte, gab mir die Mittel dazu. Jentsch aber wollte mit seinen Eltern und Geschwistern, die in einem Nordseebade gewesen waren, in Hamburg zusammentreffen, um dann noch einige Zeit mit ihnen in der Holsteinischen Schweiz zusammen zu sein. So fuhren wir denn miteinander.
In Hamburg angekommen, bestiegen wir die Verbindungsbahn nach Altona , denn im Königlichen Hofe dort war für uns Logis bestellt. Wir fanden einen zwei-etagigen Waggon, von dem man besseren Rundblick hatte. Da präsentierte sich dann uns bald die Binnen- und Butenalster, die damals noch größtenteils frei lag, jene mit dem prächtigen Stadtbilde, das damals allerdings noch nicht so imposant war wie heute, da der Nikolaiturm noch nicht vollendet, sondern an seiner noch im Bau begriffenen Spitze von einem Gerüst umgeben war, der Petriturm aber noch ein Stumpf, das jahrzehntelang für Hamburg charakteristische Bild zeigend. Familie Jentsch war noch nicht in Altona, wir waren also vorläufig noch allein. Der folgende Tag war ein strahlend schöner Sommertag. Wir machten uns früh auf den Weg, Hamburg uns anzusehen. Der Weg führte durch grüne Anlagen. Vor uns sahen wir den Turm der Hauptkirche von Altona, hinter ihm tauchte in der matten Beleuchtung der Morgensonne die Kuppel des Michaelisturms auf.
Das war unser erstes Ziel. Als wir die Michaeliskirche erreicht hatten, waren wir zuerst etwas enttäuscht. Der Turm erschien uns gar nicht so besonders hoch, wir konnten's uns nicht denken, dass das einer der höchsten Türme der Welt sein sollte. Erst als wir die 558 Stufen bis über die Kuppel hinaufgestiegen waren und die Stadt tief unter uns liegen sahen, merkten wir, dass es doch eine ganz respektable Höhe war. Die Kirche im Zopfstil selbst imponierte uns mehr durch ihre massigen Verhältnisse, als dass wir sie schön gefunden hätten. Dann bewunderten wir den Prachtbau der Nikolaikirche. In der Katharinenkirche, deren Inneres durch den Umstand, dass das erhöhte Mittelschiff keine Fenster hat, einen düsteren Eindruck macht, fesselte uns das Bild des Tempels von Jerusalem mit der Darstellung des Pharisäers und Zöllners, in das man immer gerade hineinzugehen glaubt, wie immer man sich auch vor das Bild hinstellt, sowie die Bilder von Philipp Nicolai und Johann Melchior Goeze, in der einschiffigen Jakobi-Kirche die Bilder von Erdmann Neumeister und das sprechend ähnliche von Gustav Baur. An der Petrikirche wollten wir anfangs vorübergehen, fanden aber gerade sie, als wir doch hineingingen, besonders schön. Besonders zog uns das Marmor-Relief der Grablegung im Chor an. Dann ging's an den Hafen. Auf einem Kahn ließen wir uns in demselben herumfahren. Da, wie wir hörten, die Kronprinzess auch gerade im Hafen war, waren die Schiffe alle bunt bewimpelt, was einen besonders festlichen Eindruck machte.
Inzwischen war die Familie Jentsch angekommen, der Kirchenrat ein rechter Kirchenfürst, vor dem der Sohn einen mächtigen Schock hatte, Frau Kirchenrat eine sehr liebe Frau, der der Sohn besonders nahe stand, dann die beiden Töchter Anna und Marie und die beiden jüngeren Söhne, Friedrich, damals, glaube ich, Primaner, und Stephan, Tertianer. Ich erinnere mich nur noch, dass wir am Nachmittag auf dem Alsterpavillon Kaffee tranken, dass wir am andern Tage, an dem meines Freundes Geburtstag war, noch einmal den Hafen befuhren und eine Dampfschifffahrt nach Blankenese machten, wo mich der gegenüber auftauchende Turm von Buxtehude interessierte wegen des humoristischen Schimmers, der diesen Namen umgibt, ohne dass ich ahnte, dass Buxtehude später mich einmal so nahe angehen sollte. Es waren sehr hübsche Tage, die ich mit der Familie Jentsch verlebte. Marie Jentsch nähte mir die Knöpfe meiner neuen Joppe, die ich mir eigens für die Reise angeschafft hatte, fest, Vater Jentsch hielt mich frei, und mit herzlichem Dank schied ich von der Familie, als sie nach Kiel, ich nach Lübeck weiterfuhr.