Teil 2 - Bärsdorf, 1857 bis 1864
Kapitel 12:
Richard
Marie Gärtner blieb in Bärsdorf noch gut ein Jahr bei uns. Dann holte ihr Vater sie nach Hause. Wenige Tage nach ihrem Abgang erhielten wir aber einen neuen Pensionär, Richard Radtke aus Heydeburg in Ostpreußen, 17 Jahre alt, mit Großvater Rogge entfernt verwandt. Ich habe den Grad der Verwandtschaft nie beziffern können. Er war Sohn eines Gutsbesitzers, hatte wohl zu Hause nicht gut getan und war deshalb in das Pensionat des Rettungshauses zu Schreiberhau gegeben worden und sollte nun von Vater für die Konfirmation und für die Sekunda des Gymnasiums vorbereitet werden. Da hörten wir dann, da wir auch unsere Unterrichtsstunde gleichzeitig mit ihm hatten, zuerst von Vater Zeus und den Klang der homerischen Verse und sahen an der Wandtafel die mathematischen Figuren. Wir waren aber auch sonst viel mit ihm zusammen, beobachteten seine Buchbinderarbeiten, die er in Schreiberhau gelernt hatte und in Bärsdorf weiter betrieb - einige Bücher, die Vater sich von ihm binden ließ, sind noch in meinem Besitz - gingen mit ihm im Sommer zum Baden, wobei wir seine Narbe, die ihm von einem Hundebiss geblieben war, beaugenscheinigten, und amüsierten uns, wenn er sich mit Redeker prügelte.
Ich hatte das Glück oder Unglück, sein besonderer Liebling zu sein. Er schenkte mir öfter von seinem bunten Papier, das er zu seinen Buchbinderarbeiten sich besorgt hatte, quälte mich aber auch gelegentlich mit seiner manchmal etwas bärenhaften Zärtlichkeit. Einmal zog er mir damit eine unverdiente Bestrafung zu. Ich war vor dem Mittagessen frisch angezogen, hatte eine reine Kittelschürze, auf die ich sehr stolz war, vorgebunden bekommen und kam so strahlend aus dem Schlafzimmer heraus, um ins Esszimmer hinabzugehen. Da sieht Richard von ungefähr aus der Stube heraus, erblickt mich und ruft: Hano, mein Goldjunge!
oder etwas derartiges und nimmt mich auf seinen Arm, sehr zum Schaden meiner frisch gewaschenen und geplätteten Schürze. Ich heulte los. Vater kommt auf das Geheule heraus und fragt, was los sei. Ich: Ich hatte eine reine Schürze an, und da hat Richard mich auf den Arm genommen und mir meine ganze Schürze zerquetscht.
Richard, ins Verhör genommen, erklärte, ich hätte sie zerquetscht. Obgleich beide Aussagen leicht hätten vereinigt werden können, denn Richard hatte sie mir ohne Zweifel nicht absichtlich zerquetscht, wenn er auch mit seinem etwas plumpen Zugriff das Malheur verschuldet hatte, wurde meine Aussage doch ohne Weiteres als Lüge abgetan und ich mit Entziehung des Mittagessens bestraft.
Nach dem Mittagessen nahm mich Vater nochmals ins Verhör. Ich berichtigte nun meine Aussage dadurch, dass ich statt der Wendung: und da hat er mir meine Schürze zerquetscht
mich der neutralen bediente: und da wurde meine Schürze zerquetscht
, und damit der Friede geschafft war. Ich bekam aber für das entzogene Mittagessen nichts. So etwas prägt sich dem Gedächtnis leicht ein und bleibt darin haften. - Eine für uns Kinder sehr erfreuliche Zugabe zu diesem Hausgenossen war eine Kiste Königsberger Marzipan, die Richards Vater uns zu Neujahr 1859 schickte. An der wurde lange gezehrt. Einige Stücke davon bildeten Hauptgewinne beim Lottospielen, mit dem nach Weihnachten um die Christbaumsachen gespielt wurde.