Teil 2 - Bärsdorf, 1857 bis 1864
Kapitel 7:
Verwandtentreffen in Groß Tinz
Einmal blieb ich ganze vier Wochen in Groß Tinz. Es war im Februar 1859. Onkel [Albrecht von] Roon war zum Divisionskommandeur in Düsseldorf ernannt, und die Familie brachte die Zeit, bis die Übersiedelung bewerkstelligt werden konnte, bei den Verwandten in Schlesien, am längsten natürlich in Groß Tinz zu. Mutter fuhr mit uns für einige Tage auch dahin, und ich war hauptsächlich mit meinem Vetter Josua [von Roon] zusammen. Den Morgen, als wir abfahren sollten, sagte ich: Ach, Mutter, wenn ich doch noch acht Tage bleiben könnte.
Mutter ging darauf ein, und da die Großeltern und Tante Anna [Rogge vh. von Roon] es auch für ganz angebracht halten mochten, dass Josua den gleichaltrigen Spielgefährten noch länger behielt, wurde es so eingerichtet, dass ich blieb. Es blieb aber wie gesagt, nicht bei den von mir gewünschten acht Tagen, sondern es wurden drei Wochen daraus. Natürlich durfte ich ebenso wenig wie Josua die ganze Zeit herumbummeln. So besuchten wir beide die Dorfschule. Unsere häuslichen Arbeiten beaufsichtigte Kusine Elisabeth [von Roon], mit der wir auch das Schlafzimmer teilten. Josua und ich schliefen in einem Bett. Einmal musste ich einige Tage das Bett hüten und kam mir sehr bedauerlich vor, dass ich bei fremden Leuten
krank läge. Ich äußerte das auch einmal. Natürlich waren die Großeltern wenig erbaut von diesem Ausdruck, der mir später noch von anderen Verwandten, denen er erzählt worden war, aufgemutzt wurde.
Ich hätte mir es damals nicht träumen lassen, dass Vetter Josua wenige Wochen darauf, nachdem er eben mit seiner Mutter an den neuen Wohnort übergesiedelt war, zum tiefen Schmerz seiner Eltern, denen dieser Nachkömmling, die süße Blume ihres Alters
, wie Onkel Roon sich ausdrückte, besonders ans Herz gewachsen war, sterben würde.
Auch die andern Verwandten von der Roggeschen Seite lernten wir gelegentlich der Groß Tinzer Besuche größtenteils kennen. So Onkel Hermann [Rogge, Pastor] aus Mainz mit seiner Frau, meiner Patentante, und seinen beiden Kindern. Mit den Breslauer Verwandten, Onkel Max[imilian Rogge] und Familie, trafen wir uns begreiflicherweise öfter. Die kamen aber auch öfter zu uns nach Bärsdorf. Ein besonderes Ereignis war es, obgleich aus einem wenig erfreulichem Anlass, dass auch die Warschauer Verwandten, Koffmahns, nach Groß Tinz und folgeweise auch nach Bärsdorf kamen. Onkel [Eduard] Koffmahn war ursprünglich ein wohlsituierter Kaufmann in Warschau, hatte aber, ich glaube, infolge des KrimkriegesDer Krimkrieg (auch Orientkrieg oder 9. Türkisch-Russischer Krieg) war ein von 1853 bis 1856 dauernder militärischer Konflikt zwischen Russland einerseits und dem Osmanischen Reich sowie dessen Verbündeten Frankreich, Großbritannien und seit 1855 auch Sardinien-Piemont andererseits.Siehe Wikipedia.org [24], sein Vermögen verloren und war nun mit seiner Familie auf die Unterstützung der Verwandten angewiesen. Zuerst kam im Herbst 1860 der älteste Vetter, Otto [Koffmahn], im Alter zwischen Alexander und mir stehend, zu längerem Aufenthalt nach Groß Tinz und nahm, wenn er zum Besuch in Bärsdorf war, auch an unserem Unterricht, den wir bei unserm Vater hatten, teil. Im Französischen war er uns voraus, konnte aber noch kein Latein.
Dann kam, irre ich mich nicht, im Frühjahr 1863, als der polnische AufstandAls Januaraufstand (polnisch Powstanie styczniowe) wird eine vor allem gegen die russische Teilungsmacht gerichtete polnische Erhebung in Kongresspolen sowie in litauisch-weißrussischen Gouvernements des Russischen Kaiserreichs in den Jahren 1863/64 bezeichnet.Siehe Wikipedia.org [25] den Aufenthalt in Warschau besonders ungemütlich machen mochte, Tante Klara [Rogge verheiratete Koffmahn] mit ihren jüngeren Kindern, von denen zwei, Bernhard [Koffmahn] bei Onkel BernhardBernhard Friedrich Wilhelm Rogge (1831-1919) war ein evangelischer Theologe und Hofprediger.Siehe Wikipedia.org [26] in Potsdamzu dem Zeitpunkt war er bereits Hofprediger in PotsdamSiehe Wikipedia.org [27] und Max [Koffmahn] bei Onkel Max [Rogge] in Breslau, untergebracht wurden, nachdem Otto schon vorher zu Onkel Hermann [Rogge], der inzwischen Superintendent in Egeln geworden, gekommen war. Wir konnten bei den Vettern den Stimmungsumschwung beobachten, der infolge des polnischen Aufstands eingetreten war. Otto war damals noch ganz stolz und konnte sich sehr entrüsten, wenn wir von polnischer Wirtschaft
verächtlich sprachen. Bernhard, mit dem im Alter uns am nächst stehenden wir am meisten zusammen waren, war in Warschau von Polen selbst schon insultiert worden und gab natürlich seinem Groll darüber lebhaft Ausdruck. Onkel Koffmahn war damals Warschauer Korrespondent der KreuzzeitungDie Kreuzzeitung war von 1848 bis 1939 eine überregionale Tageszeitung im Königreich Preußen und späteren Deutschen Reich.Siehe Wikipedia.org [28], musste aber als solcher sorgfältig seine Verborgenheit wahren, durfte beispielsweise seine Korrespondenzen nie eigenhändig adressieren, sonst wäre es ihm übel ergangen.
Auch Vaters Schwester Tante Berta [Dittrich] waren wir durch die Versetzung nach Bärsdorf näher gekommen. Sie lebte seit dem Tode ihres Mannes in Heinzenburg bei Poltwitz. Schon vor unserer ersten Fahrt nach Groß Tinz machten wir dort unsern ersten Besuch. Es war immerhin ein Weg von drei Stunden. Er führte durch BraunauBraunau bei Lüben, heute BrunówSiehe Wikipedia.org [29], Vaters Geburtsort. Mit großem Interesse sahen wir uns natürlich Kirche und Schulhaus an. Einmal gingen wir auch auf den Kirchhof und besuchten Großvater [Gottlieb Dittrich]s Grab, machten auch einen Besuch im Schulhause bei Großvaters Nachfolger. Es war jedes Mal ein Fest für uns, wenn wir zu Tante Berta fahren durften. Meistens geschah es, wenn sie zu uns abgeholt wurde. Und sie feierte stets das Weihnachtsfest mit uns. Außerdem kam sie regelmäßig auf längere Zeit zur Wochenpflege oder um, wenn die Eltern verreisten, das Regiment zu übernehmen. Im Sommer 1861 aber siedelte sie sowohl als Großmutter [Ernestine] Dittrich [geb. Schöbel] und Tante Emilie [Dittrich] ganz nach Bärsdorf über. Beim Krämer Bährisch uns schräg gegenüber auf dem andern Ufer der Deichse nahmen sie ihre Wohnung, und wir Kinder fanden nun ebenso oft den Weg zu Großmutter und den Tanten
wie früher in Arnsdorf.
Auch ein anderer Bekannter aus der Arnsdorfer Zeit rückte im Lauf der Jahre uns wieder näher. Göbelsiehe Teil 1 Arnsdorf, Kapitel 9, Tante Laura, Onkel Wilhelm und Freunde
[30] wurde durch den Herrn N (?) Rosenegt, einen alten Gönner unseres Vaters - ich weiß nicht, ob dieser Umstand dabei eine Rolle spielte - zum Kantor nach Rüstern bei Liegnitz berufen, und ein reger Verkehr hinüber und herüber fand von da an wieder statt. Zwei Halbbrüder Göbels, Heinrich und Robert Neumann, studierten Theologie und beide hielten ihre ersten Predigtproben auf Vaters Kanzel, was uns natürlich lebhaft interessierte.
[25] Als Januaraufstand (polnisch Powstanie styczniowe) wird eine vor allem gegen die russische Teilungsmacht gerichtete polnische Erhebung in Kongresspolen sowie in litauisch-weißrussischen Gouvernements des Russischen Kaiserreichs in den Jahren 1863/64 bezeichnet.
[26] Bernhard Friedrich Wilhelm Rogge (1831-1919) war ein evangelischer Theologe und Hofprediger.
[27] zu dem Zeitpunkt war er bereits Hofprediger in Potsdam
[28] Die Kreuzzeitung war von 1848 bis 1939 eine überregionale Tageszeitung im Königreich Preußen und späteren Deutschen Reich.
[29] Braunau bei Lüben, heute Brunów
[30] siehe Teil 1 Arnsdorf, Kapitel 9