Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 11
Mein amtliches Leben in der Vorkriegszeit
„Des Menschenherz schlägt seinen Weg an, aber der Herr allein gibt, dass es fortgehe“, hatte Generalsuperintendent [Johannes] Remmers bei meiner Einführung mir zugerufen. Meine Amtserfahrungen in Lesum waren danach angetan, mir die Wahrheit dieses Wortes immer wieder in Erinnerung zu rufen. Von allen Stellen, auf die ich gesetzt wurde, war Lesum die einzige, um die ich mich beworben hatte. Ob ich es getan hätte, wenn ich im Voraus gewusst hätte, was alles mir in meinem amtlichen Leben dort begegnen würde, ich weiß es nicht. Ich hatte früher wohl meinem Freund Wagner gegenüber, der erklärt hatte, in keine unkirchliche Gemeinde zu gehen und danach auch bei wiederholten Anlässen verfahren war, geltend gemacht, das dürfe uns nicht bestimmen, wo der Herr uns hin schicke, dahin müssten wir gehen, und der schicke uns nicht nur in kirchliche Gemeinden, die unkirchlichen bedürften erst recht eines Pastors, und wir wüssten gar nicht, ob wir nicht gerade solch einer Gemeinde zum Segen werden könnten. Ich halte auch jetzt noch an diesem Grundsatz fest. Aber ich habe doch wohl meine Kräfte überschätzt, als ich mich um Lesum bewarb. Nun, demütigende Erfahrungen sind uns auch heilsam.
Ich kann nicht sagen, dass ich in Lesum gerade ungern gewesen wäre. Im Großen und Ganzen habe ich hier immerhin mehr Freude im Amt gehabt als in Diepholz. Das hing schon damit zusammen, dass es mir von vornherein gelang, mit meinem Kollegen eine Einteilung der Gemeinde in Seelsorgebezirke zu vereinbaren und die Gemeinde sich auch ohne Schwierigkeit an dieselbe gewöhnte. Es ging mir auch bei dieser Teilung ähnlich wie Abraham mit Lot. Freyer erhielt den westlichen landschaftlich ausgezeichneteren Teil der Gemeinde, in dem die meisten Bremer Landgüter lagern, ich aber den im Großen und Ganzen kirchlich erfreulicheren. In Lesum selbst wurde zwischen beiden Pfarren geteilt. Die Grenze wurde durch die Vegesacker Chaussee gebildet, und der Süden der ersten, der Norden mit dem hauptsächlich von Fabrikarbeitern bewohnten Ortsteil Neu-Lesum der zweiten Pfarre zugeteilt. Zur ersten Pfarre gehörte der große Industrieort Burgdamm und das besonders stark anwachsende und nach dem Kriege durch Siedlungen verdoppelte Ihlpohl, ebenfalls mit Arbeiterbevölkerung, außerdem aber die Mehrzahl der rein ländlichen Ortschaften mit bäuerlicher Bevölkerung. Und es waren größtenteils Bauern von altem Schrot und Korn. In besonders freundlicher Erinnerung steht mir die kleine Ortschaft Wollah, in Stendorf die Familien Klaus Blendermann mit ihren vielen Kindern und Matthias Thoden, in Werschenrege Schnibben, in Övelgönne die freundliche Frau Albrecht mit ihrer treuherzigen Sprache, die unverkennbar die westfälische Herkunft zeigte, und deren Tochter Frau Oitmann sowie der wackere Kirchenvorsteher Schröder, in Heilshorn die Familie Heißenbüttel und die Witwe Ficken. In Lesum und Burgdamm überwog die zum guten Teil zugezogene industrielle Bevölkerung und drängte die alteingesessenen mehr und mehr in den Hintergrund. Vertreter der guten alten Zeit
, die regelmäßig zur Kirche sich hielten, starben nach und nach aus, und der Nachwuchs fehlte. In Burgdamm gehörte zu derselben Engelbert Lange, der eine kleine Buch- und Papierhandlung hatte, früher einen Posaunenchor geleitet hatte, der aber ausgestorben war - das Dirigentenpult hatte er noch in seinem Hause stehen, und die Frage, was er mit ihm machen solle, trieb ihn zuerst in mein Haus und knüpfte die Bekanntschaft an. Er starb dann nach längerem Leiden. Doch lebte sein Geist wenigstens teilweise in seinem Hause fort. Sein jüngerer Sohn gehörte zu meinen ersten Konfirmanden, zeichnete sich als solcher schon durch Ernst und Eifer aus und hielt sich auch später wacker, kam als Kaufmann auch so weit, dass er sich ein eigenes Haus bauen konnte. Von seinen vier Töchtern, auch äußerlich ansehnlichen Mädchen, war eine bereits Diakonisse in Bethel und wurde von da nach London geschickt, die andere trat zu meiner Zeit ins Rothenburger Mutterhaus und wurde auch verhältnismäßig früh zur Leitung einer auswärtigen Station ausgeschickt. Mutter Lange steht mir besonders vor Augen, wie sie als treue Großmutter die Kinder ihrer jüngsten Tochter, die ich getraut hatte, betreute.
Ein anderes Haus der guten alten Art war das des Stellmachers Hoppe, der später in den Kirchenvorstand gewählt wurde, aber schon ziemlich lange vor Abbruch seiner Dienstzeit an Wassersucht starb. In Lesum wohnte mir gegenüber, doch nicht zu meinem Pfarrbezirk gehörend, der alte Schuster Johann Kühlken, ein Charakterkopf und lebendiger Träger der Lesumer Tradition, dabei ein Philosoph voll Lebensweisheit. Mir fiel er gleich in den ersten Tagen auf durch seinen ehrwürdigen Patriarchenbart. Er redete mich auch bald auf der Straße an und hat uns treue Nachbarschaft gehalten bis an sein Ende. Er war seinerzeit mit [Friedrich] Hashagen, der aus Leuchtenburg stammte als Sohn eines Kapitäns, konfirmiert worden und interessierte sich höchlich dafür, als er hörte, dass Gerhard denselben in Rostock hörte. Wie manches Mal fragte er mich: Was macht unser Professor?
Sowie er hörte, dass Gerhard sein erstes theologisches Examen glücklich bestanden, eilte er zu uns herüber mit dem Ruf: Freuet euch mit den Fröhlichen!
Bis in die achtziger Jahre seines Lebens war er frisch und mobil. Dann warf ihn ein unglücklicher Fall auf das Siechbett, von dem er nicht wieder aufstehen sollte. Sein Sohn, ein riesiger Mensch, besuchte, als wir nach Lesum kamen, das Lehrerseminar in Bremen und fuhr gewöhnlich mit meinen die Bremer Schulen besuchenden Kindern zusammen. Er war gewissermaßen ihre Uhr. Wenn Fidi Kühlken aus dem Haus eilte, war es hohe Zeit auch für sie. Es war nicht leicht, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Er ist heute der sehr tüchtige Leiter einer der Bremer Volksschulen. Meister Kühlkens Geselle war der vorhin genannte Jan Meyer, der ein Haus besaß, das an unsern Garten anstieß, in dem er, unverheiratet, mit seiner Schwester hauste, deren rotes Haar eigentümlich mit ihren knallroten Wangen und ihrem scharlachroten Umschlagetuch kontrastierte. Elisabeth meinte, dass diese Farbzusammenstellung ihr körperlich wehtäte. Zwischen Jan Meyer und unserer Eva entwickelte sich bald ein Freundschaftsverhältnis.