Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 24
Geburt und Tod in der Familie
Doch ehe ich dazu übergehe, registriere ich noch die hauptsächlichsten persönliche Dinge. In Neuenkirchen wurde noch im letzten Kriegsjahr das zweite MädchenElisabeth Maria Crusius, *20. August 1918 [66] geboren. Das dritte und vierteUrsula Hanna Crusius, * 29. Juni 1920 und Annemarie Crusius, * 4. September 1921 [67] folgte in immer kürzer werdendem Abstand in den ersten Jahren nach Beendigung des Krieges. In der Hoffnung auf einen männlichen Leibeserben hatte mein Schwiegersohn es von einem Fall zum andern verschoben, mich zu Gevatter bitten. Als bei der Geburt des vierten Mädchens diese Hoffnung schwand, bat er mich zum Paten desselben, das Annemarie genannt wurde. Magdalene nahm nach manchem Hin und Her eine Stelle als Orthopädin am Hindenburghause in Königsberg in Preußen an, später nach einem Intermezzo in einer noch näher an der russischen beziehungsweise litauischen Grenze wohnhaften Familie in der Privatklinik ihres Chefs vom Hindenburghause. Sie rückte uns damit ja in weite Ferne, ermöglichte es aber doch regelmäßig, das Weihnachtsfest mit uns zu feiern. Annelise dagegen wurde nach bestandenem Examen zunächst Lehrerin einer Privatschule, die Gerhard in seinem Hause in Wriedel in Gemeinschaft mit dem dortigen freikirchlichen Pastor aufgetan hatte, blieb uns also nahe. Eva wandte sich dem Kunstgewerbe zu und lernte zunächst bei einem Buchbinder, übte daneben Grafik, stellte Vorsatzpapier her und zeichnete Ex libris, wandte sich jedoch bald der Porzellanmalerei zu. Zwischendurch aber musste sie immer wieder einmal nach Neuenkirchen, wo sie von den Kindern bald als drittes Glied ihres Elternbundes neben Vater und Mutter angesehen wurde.
Der Besuch in den Kinderhäusern zu Wriedel und Neuenkirchen war uns immer eine besondere Freude. Die Freude an den Fahrten nach Neuenkirchen wurde uns dadurch noch erhöht, dass der Weg jedes Mal über Melle ging, wo wir uns an dem Zusammensein mit den beiden Geschwisterehepaaren freuten, besonders aber stets gastliche Aufnahme bei der bis ins höchste Alter geistesfrisch und teilnehmend sich haltenden Großmama fanden. Da erhielt ich am Osterdienstage des Jahres 1920 ein Telegramm, das mir den Tod der lieben Ahne [Thekla von Stoltzenberg] meldete. Fast ganz unerwartet war sie, nachdem sie am Nachmittag des ersten Ostertages noch vergnügt mit den beiden Kinderehepaaren zusammen gewesen war, in der Frühe des zweiten Ostertages sanft und ohne Todeskampf eingeschlafen. Die Geschwister baten mich, ihre Leichenrede zu halten. Das tat ich denn am 9. April, zum Text die Stelle Philipper 1,21Denn für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn.
[68] nehmend. Bei allem Schmerz über den Verlust muss ich doch sagen, dass ich kaum jemals mit solcher Freudigkeit an einem Sarge gesprochen habe wie hier, wo Leben und Sterben der Heimgegangenen so wie von selbst mir den Text zur Leichenrede gegeben hätte. Es war ein herrlicher Frühlingstag, und unvergesslich ist mir das Bild, wie die blauen Berge über die sonnenbeschienene Stadt herüber grüßten, als wir auf dem schön gelegenen Gottesacker am offenen Grabe standen. Elisabeth war leider durch ihr Befinden gehindert, der Mutter das letzte Geleit zu geben.
Nur wenig mehr als zwei Jahre später musste ich wieder nach Melle, um eine Leichenrede zu halten. Diesmal galt es meiner Schwägerin Georgine, die nach langem, schmerzhaftem Krankenlager, das uns lange zwischen Furcht und Hoffnung hatte schwanken lassen, der Mutter so bald in die Ewigkeit nachfolgte. An ihrem Sarg sprach ich über Johannes 16,33Dies habe ich zu euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.
[69].
Auch an ein anderes Totenbett rief mich in diesen Jahren, wenn auch nicht die Aufgabe zu amtieren, so doch dankbare Liebe. Mein lieber Steinmetz war unmittelbar vor Pfingsten 1921 im hohen Alter von 88 Jahren heimgegangen. Ich konnte nach dem Fest noch gerade zu seiner Leichenfeier nach Göttingen kommen. Der Sarg stand schon in der Albanikirche aufgebahrt. ChargierteAls Chargen (frz. für Last, Bürde, Amt) werden die Führungsämter in Studentenverbindungen bezeichnet. Der Inhaber der Charge wird Chargierter genannt; beide Ausdrücke werden aber häufig in der Bedeutung von Amtsinhaber verwendet.Klick hier für Wikipedia [70] des Wingolf, dem er einst angehört hatte, hielten die Totenwache. Steinmetz' Nachfolger Superintendent Stisser hielt ihm die Leichenrede über den vorzüglich passenden Text Psalm 92,14-16Gepflanzt im Haus des HERRN, sprießen sie in den Höfen unseres Gottes. Sie tragen Frucht noch im Alter und bleiben voll Saft und Frische; sie verkünden: Der HERR ist redlich, mein Fels! An ihm ist kein Unrecht.
[71]. Beim Aufwerfen von Erde auf den Sarg rief ich ihm die Worte Daniel 12,3Die Verständigen werden glänzen wie der Glanz der Himmelsfeste und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, wie die Sterne für immer und ewig.
[72] nach. In der Luthardtschen Kirchenzeitung zeichnete ich sein Lebensbild.
Als Familienkaplan fungierte ich bei der Trauung meiner Patnichte Renate, Tochter meines Bruders Georg, die am 23. September 1920 sich mit Jakob Adrian aus Oberursel, Sohn des früheren Hauswirts Georgs, verheiratete. Georg wohnte damals in Herzberg am Harz, und ich lernte bei dieser Gelegenheit diesen romantisch gelegenen Flecken kennen, wo Georg damals an einem fast senkrecht aufsteigenden Felsenabhang eine in halber Höhe gelegene Wohnung innne hatte, die er übrigens bald darauf verließ, da seine Frau das Steigen nicht vertragen konnte, um nach Bissendorf bei Hannover zu übersiedeln. Die Hochzeit fand, wie das die Zeitverhältnisse erforderten, nur im engsten Familienkreis statt. Außer mir nahm nur die Familie des Bräutigams, der Bruder und eine Nichte meiner Schwägerin und Renates ehemaliges Kinderfräulein teil. In dem Vater des Bräutigams lernte ich einen biederen, handfesten selfmade man, in seinen Angehörigen freundliche Menschen kennen, die mich aufforderten, sie auch einmal in Oberursel zu besuchen. Beherbergt wurde ich in den Tagen von Superintendent Schlie, dem Schwiegersohn meines einstigen Gönners Meyer in Luhne, mit dem ich auch in den schönen Harzbergen herumschweifte.
Im Sommer 1922 hatten wir die Freude, meine beiden inzwischen verwitweten Schwestern Elli und Vera bei uns zu sehen. Helmut Wiesener war im Herbst 1918 heimgegangen. Die ganze Schmach seines Vaterlandes zu erleben war seinem vaterlandliebenden Herzen erspart geblieben. Karl Fricke war ihm schon im März 1920 infolge eines sich rasch entwickelnden Herzleidens gefolgt. Beide Schwestern zeigten rege Teilnahme an unserem persönlichen wie amtlichen Leben, begleiteten mich auch auf Wegen in die Gemeinde. Elly versah einmal sogar den Organistendienst beim Gottesdienst in Werschenrege. Sie trafen sich bei uns mit Uli, der mit seiner Frau [Elisa] in diesem Jahre die europäische Heimat besuchte. Beide blieben bis Februar 1923 in Europa, und beinahe hätte das Leben unserer Eva durch sie eine entscheidende Wendung genommen. Kurz vor ihrer Rückkehr lernten sie dieselbe, die sonst viel in Neuenkirchen aushalf, aber zu uns herüber kam, kennen und fanden solches Wohlgefallen an ihr, dass sie sie einluden, mit ihnen nach Valparaiso zukommen. Auch die Neuenkirchener, für die es damals ja besonders ein Opfer war, redete ihr zu, die Einladung anzunehmen, und so folgte sie derselben und reiste mit Onkel und Tante, von denselben größtenteils neu ausgestattet, über den großen Teich
, durch den Panama-Kanal und an der pazifischen Küste Südamerikas entlang. Die achtwöchige Reise, die ohne sie Seekrankheit überstand, war ja hochinteressant für sie nicht nur wegen des großen Stücks Erde, das sie kennen lernte, - in Quito ging sie an Land und sah das Quellgebiet des Amazonas -, sondern auch wegen der eleganten Reisegesellschaft. Aber schon der erste Brief aus Valparaiso zeigte eine sehr gedrückte Stimmung. Die Tante verstand das deutsche Wesen nicht. Hatte sie doch nicht einmal die deutsche Sprache gelernt und konnte es nicht vertragen, dass ihr Mann sich mit der Nichte in dieser ihr fremden Sprache unterhielt, verhinderte deshalb sein Zusammensein mit ihr und wollte sie nicht einmal im Hause haben, solange ihr Mann drinnen war. Der Zustand war unhaltbar. Eva war natürlich der Gedanke, so bald nach Europa zurückzukehren, sehr schwer. Was warf es in der Heimat für ein Licht auf sie, wenn sie, mit 1000 Masten über den Ozean geschifft, so bald schon auf gerettetem Boot
in den Hafen getrieben wäre. Sie hätte gern im Ausland eine andere Stellung gesucht, und die auf dem Schiff angeknüpften Verbindungen wären ihr gern dazu behilflich gewesen. Aber auch das litt die Tante nicht, da es ihren Anschauungen zuwider war, eine Verwandte im Lande in dienender
Stellung zu wissen. So wurde Eva mit nächster Gelegenheit nach Hause geschickt. An einem Sonnabendabend im August [1923] kam sie an, als ich gerade in der Vorbereitung einer Predigt begriffen war, die ich am folgenden Tag in Aumund halten sollte. Wir nahmen sie mit offenen Armen auf. Freunde begrüßten sie, nachdem ihre Rückkehr bekannt geworden war, in der folgenden Nacht mit einem Ständchen vor ihrem Fenster. Und so vergaß sie die Enttäuschung bald.
[67] Ursula Hanna Crusius, * 29. Juni 1920 und Annemarie Crusius, * 4. September 1921
[68]
Denn für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn.
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Dies habe ich zu euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.
[70] Als Chargen (frz. für Last, Bürde, Amt) werden die Führungsämter in Studentenverbindungen bezeichnet. Der Inhaber der Charge wird Chargierter genannt; beide Ausdrücke werden aber häufig in der Bedeutung von Amtsinhaber verwendet.
[71]
Gepflanzt im Haus des HERRN, sprießen sie in den Höfen unseres Gottes. Sie tragen Frucht noch im Alter und bleiben voll Saft und Frische; sie verkünden: Der HERR ist redlich, mein Fels! An ihm ist kein Unrecht.
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Die Verständigen werden glänzen wie der Glanz der Himmelsfeste und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, wie die Sterne für immer und ewig.