Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 15
Der Kirchenvorstand
Im Kirchenvorstand gab es besonders in der ersten Zeit mancherlei Reibungen. Mein Vorgänger hatte es verstanden, durch Diplomatie den Eindruck zu erwecken, als erfülle er nur die Wünsche des Kirchenvorstandes, während er in Wahrheit den Kirchenvorstand nur nach seinen Wünschen leitete. Was bei Rakenius Diplomatie gewesen war, war bei Freyer Schwäche. Ich kann es nicht anders bezeichnen, als dass er vor dem Kirchenvorstand förmlich kroch. So war in den Kirchenvorstehern ein etwas überstiegenes Gefühl eigener Vollmacht erweckt worden. Und als ich nun weniger rücksichtsvoll auftrat, erregte das Verstimmung. Besonders mit dem Kirchenvorsteher Mahlstedt hatte ich einige Zusammenstöße. Er war seit Erlass der Kirchenvorstands- und Synodalordnung ununterbrochen Mitglied des Kirchenvorstandes gewesen, also wohl der älteste Kirchenvorsteher der Landeskirche, war zugleich als einer der größten Grundbesitzer der Gemeinde Mitglied des Kreistages und des Kreisausschusses, auch Landtagsabgeordneter, und war als solcher bei seinem 80. Geburtstag sehr gefeiert, auch mit dem Roten Adlerorden vierter Klasse dekoriert worden. Noch bei der Anwesenheit des Kaisers in Hannover im Jahre 1907 war er zu dem Essen der Provinz eingeladen worden und zeigte mir, als ich ihn auf dem Krankenbett besuchte, - es stellte sich, nachdem er bis in das hohe Alter noch verhältnismäßig frisch gewesen war, Entkräftung ein, und er starb gerade ein Jahr nach meinem Dienstantritt in Lesum - mit Stolz die erhaltene Einladungskarte. So hatte sich ein nicht geringes Selbstbewusstsein bei ihm herausgebildet, und er spielte gern die Rolle eines nörgelnden CatoCato der Ältere wiederholte im Römischen Senat gebetsmühlenartig seine Forderung, dass Karthago zerstört werden müsse.Klick hier für Wikipedia [50]. So rügte er es, als ich mir herausgenommen hatte, eine Angelegenheit durch ZirkularRundschreiben [51] zu erledigen, obgleich ich auf sein Verlangen eine Sitzung - trotz der Karwoche - berufen hatte, in dieser Sitzung, versuchte er sogar, meine Praxis betreffend Dispensation minorenner Konfirmanden zur Sprache und vor das Forum des Kirchenvorstandes zu bringen - mein Vorgänger hatte auch hierin eine sehr laxe Praxis geübt, und ich fand in der Registratur ein darauf bezügliches ziemlich höhnisches Schreiben an ihn von Seiten eines Konfirmandenvaters, der es so darstellte, als sei es dem Superintendenten um die Dispensationsgebühr zu tun, und ich zog auch hier in Diepholz Zügel fester an - was ich natürlich ablehnte. Und diese Ablehnung brachte eine etwas schwüle Stimmung im Kirchenvorstand hervor. Auch sonst kamen einige Verstimmungen vor. So hatte Freyer während der Vakanz einen Beschluss wegen Aufhebung der Ehrenprädikate herbeigeführt bei Aufgeboten, und denselben auch gleich von der Kanzel verkündigt. Und als ich verlangte, dass dieser Beschluss dem Konsistorium zur Genehmigung vorgelegt werde, stieß ich nicht nur bei Freyer, sondern auch bei dem Kirchenvorstand an. Freyer wollte sogar die Abstellung eines offenbaren kirchlichen Unfugs, der sich in der Gemeinde seit unvordenklichen Zeiten eingefunden hatte, vor den Kirchenvorstand gebracht haben. Es war bei der Beichte Brauch, dass die Beichtenden vor Abkündigung der Absolution durch die Sakristei gingen, in die der Beichtiger vom Altar zurückgekehrt war, ihre Namen anschreiben ließen, ihren Beichtgroschen entrichteten und dann von dem in den Altar zurückgekehrten Geistlichen die Absolution empfinden. Ich erklärte Freyer, als er mir diese Praxis mitteilte, sofort, dieser Missbrauch müsse abgeschafft werden. Er wandte ein, dass, wenn ich die Beichtenden erst nach beendigter Beichthandlung in die Sakristei zum Anschreiben ihrer Namen und der Entrichtung des Beichtgroschens kommen ließe, manche vielleicht gar nicht kämen und ich das Beichtgeld verlöre. Ich antwortete, wenn jemand so unnobel wäre, mich um den Beichtgroschen zu betrügen, so möge er das auf seine Gefahr tun. Er bat mich, die Sache wenigstens dem Kirchenvorstand vorzulegen. Ich erwiderte: Das fehlte gerade noch, dass ich die Abstellung einer Unordnung von der Zustimmung des Kirchenvorstandes abhängig machte.
Als ich zum ersten Mal die Beichte gehalten, konnte ich ihm sagen, dass von den Beichtenden, die ich nach Abschluss der Beichthandlung gebeten hätte, in die Sakristei zur Feststellung ihrer Namen zu kommen, nicht ein einziger weggeblieben sei. Er beantragte daraufhin im Kirchenvorstand, dass die Beichtanmeldung vor der Beichthandlung stattfinden solle, womit ich mich nur einverstanden erklären konnte, und was ohne Widerspruch angenommen wurde. Einmal brachte Freyer sogar eine Differenz mit mir vor den Kirchenvorstand. Ich hatte ihm Vorhalt gemacht, dass er eine Katholikin ohne weiteres kirchlich beerdigt hatte. Das brachte er vor den Kirchenvorstand. Als ich ihm erwiderte, Vorhaltungen, die ich ihm in meiner Eigenschaft als Superintendent machte, gehörten nicht vor den Kirchenvorstand, und als einige der Kirchenvorsteher, die Freyer offenbar vorher verständigt hatte, einer sogar in ziemlich brüsker Form, die Verhandlung aufgenommen wissen wollte, erklärte ich, ich würde die Sitzung schließen, falls der Gegenstand nicht verlassen würde. Die Folge war eine Beschwerde, die der Kirchenvorstand gegen mich beim Konsistorium erhob. Mit der Zeit besserte sich das Verhältnis. Einer der Kirchenvorsteher, der Kaufmann Hugo Schröder, stellte sich von Anfang an freundlich zu mir und zeigte sich als ein zuverlässiger Mann. Mit der Zeit kamen nun auch neue Männer in den Kirchenvorstand, mit denen ich vertrauensvoll zusammenarbeiten konnte. So brachte besonders Kaufmann Otto, der schon immer lebhaftes kirchliches Interesse bekundet hatte, einen frischen Zug in die Verhandlungen. Er setzte es durch, dass wir regelmäßig monatliche Sitzungen hielten, und während ich mich sonst dazu nicht recht entschließen konnte und das Drängen des Konsistoriums darauf für bürokratischen Zopf hielt, musste ich mich überzeugen, dass nun die Sitzungen sich wirklich fruchtbarer gestalteten. Auf seine Anregung wurde auch eine Kommission im Kirchenvorstand zur Prüfung der Kirchenrechnung gebildet, so dass das Plenum damit nicht mehr belastet zu werden brauchte. Ein besonders wertvolles Gebiet des Kirchenvorstandes wurde auch der Tischlermeister Fennekohl, ein Mann von wirklich idealer Auffassung seines Berufes, bei dem sich immer mehr ein inneres Verstehen mit mir anbahnte. Bei einem zeigte sich auch der kirchliches Verständnis herausbildende Einfluss der Teilnahme an der kirchlichen Arbeit, bei Anton Winters. Derselbe, der in den ersten Jahren eine Bierbrauerei in Burgdamm hatte, die er dann aber aufgab, hatte sich in den Sitzungen des Vorstandes der Lesumer und Burgdammer Schulen, in denen er gewöhnlich die Opposition gegen seinen Schwager Seegelken vertrat, mir ziemlich unliebsam bemerkbar gemacht. Ich war daher nicht sehr erfreut, als er für den verstorbenen Karel Hoppe als Ersatzmann in den Kirchenvorstand eintrat. Aber er zeigte in demselben lebhaftes Interesse, und während ich vor seinem Eintritt in den Kirchenvorstand ihn jemals in der Kirche gesehen zu haben mich nicht entsinnen konnte, fehlte er von da an keinen Sonntag in derselben.
Wie an meinen früheren Stellen suchte ich auch hier liturgisch reformierend zu wirken. Es war hier wohl besonders nötig, da gerade liturgische Begabung nicht die Sache meines Vorgängers war. Freilich zogen mir Bremen-Verdensche Traditionen ihre Grenzen. So stand ich, auch auf den Rat von Generalsuperintendent Remmers, von dem Vorhaben ab, die Kollekte in dem Gottesdienst zu singen, was ja, nachdem Kyrie, Gloria und Salutatio gesungen waren, das Gegebene war und wobei die Stimme erst recht herausgekommen wäre. Dagegen gelang mir es auf einen Versuch hin ohne Mühe, den Gesang der Abendmahlsliturgie einzuführen. Außer den sonntäglichen Abendmahlsfeiern wurden im Frühling und Herbst je zwei Mittwochskommunionen, vorzugsweise für Alte und Schwache, gehalten, von jedem der beiden Geistlichen je eine. Als ich zum ersten Mal eine solche Wochenkommunion hielt, fing ich, einem augenblicklichen Impulse folgend, die Abendmahlsliturgie zu singen an. Ich fühlte mich von der Orgel unabhängig, weil ich sie oft genug ohne Orgelbegleitung gesungen hatte. Aber der gute Kantor Rathje, sonst durchaus kein Held auf der Orgel, setzte sofort ein. Und da diese Neuerung den Beifall der Gemeinde fand, folgte mir auch Freyer hierin, wie er sonst gegen Neuerungen von meiner Seite sich in der Regel ablehnend verhielt und mir Abweichungen vom Hergebrachten als Pietätlosigkeit gegen meinen Vorgänger beurteilte. Anderes war freilich nicht zu erreichen, und Versuche scheiterten besonders an dem schlechten Kirchenbesuch. So wollte ich das Reformationsjubiläum 1917 dazu benutzen, die außer Übung gekommenen Luther-Melodien wie Es wolle Gott uns gnädig sein
, Ach Gott vom Himmel sieh darein
, Gott der Vater wohn' uns bei
wieder einzubürgern. Ich ließ deshalb mehrere Sonntage hintereinander statt des Kanzlerverses nach der Predigt eines dieser Lieder singen, nachdem ich die Lehrer gebeten hatte, sie vorher in den Schulen einzuüben. Aber was half's. Der Besuch der Gottesdienste war so schwach, und bei den einzelnen so sporadisch, dass die etwaigen Teilnehmer, wenn sie überhaupt zum Mitsingen zu bewegen waren, doch nicht hinreichten, einen Gemeindegesang dieser Lieder herbeizuführen. Ebenso scheiterte ein Versuch, das Tedeum einzubürgern, den ich anlässlich des erwähnten Jubiläums machte. Zur Verschönerung des Festgottesdienstes am 31. Oktober ließ ich es einüben und hielt schon eine Art Vorprobe an dem vorangehenden Erntedankfest. Ich selbst sang den ersten Chor und ließ die Gemeinde den zweiten Chor singen. Nach dem Reformationsfest ließ ich einen Kirchenvorstandsbeschluss fassen, nachdem das Tedeum stehender Bestandteil des Gottesdienstes an den ersten Tagen der drei hohen Feste sein sollte. Ich weiß nicht, ob ich öfter als einmal diesen Beschluss ausgeführt habe. Eine anonyme Briefschreiberin, die mich schon wiederholt mit ihren zudringlichen Zuschriften belästigt hatte, schrieb mir, ich möchte die lange Leier
weggelassen. Dem Kirchenvorstand mussten wohl ähnliche Äußerungen zu Ohren gekommen sein, kurz, er bat mich in einer Sitzung, das Tedeum wegzulassen, und so musste ich wohl oder übel den Versuch aufgeben.
[51] Rundschreiben