Kanaken, Kannibalen, mein Opa und ich
Kapitel 15:
Leben auf Samoa
Mit den von meinem Großvater als sauber beschriebenen Hütten und Wigwams dürften die typischen Fales der samoanischen Architektur gemeint sein. Eine Familie besitzt nicht nur ein Fale, sondern zu ihr gehören mehrere Fales, denn jedes Fale hat eine eigene Funktion.
Das größte Fale, das Fale Tele, ist der Versammlungsraum (Foto 1). Hierbei handelt es sich um einen großen ovalen Raum, dessen Dach von Holzpfählen getragen wird. Diese Säulen dienen gleichzeitig als Platzstützen, denn an jedem Pfahl des Versammlungsfales haben die Matai
, heute auch teilweise Orts- bzw. Familienvorsteherinnen, der Familien, ihre festen Plätze. Im Tagebuch spricht mein Großvater von Häuptlingen, in der angelsächsischen Literatur wird der Begriff King
häufig benutzt.
Auf den Inseln in Westsamoa haben die Häuptlinge heute wie zur Zeit meines Großvaters eine tragende Rolle als weltliche und religiöse Repräsentanten im System der Matai
, der sogenannten Titelträger, und als Vorstände der Aigas
, der Großfamilien.
Beide Bezeichnungen sind aus der europäischen Denkweise entlehnt. So wie ich die Strukturen auf Samoa kennenlernte, gibt es unsere stets hierarchisch gefühlte Ordnung dort nicht, denn nur der oder die Person, die großzügig und spendabel ist – und das gilt auf Dauer – kann eine so herausragende Führungsrolle erreichen. Zudem muss die Abstammung aus einer Aiga vorhanden sein, die würdig ist, solche Matai hervorzubringen. Im Gegensatz zu dem Big Man in Papua Neu-Guinea kann der Matai nicht jederzeit von einem anderen abgelöst werden. Ein Wechsel ist hier nur möglich, wenn Dritte, sogenannte Fürsprecher, durch Reden sich so lange in den Versammlungen für einen anderen Kandidaten einsetzen, bis alle Anwesenden ihrer Fürsprache folgen.
Diese Plätze an den Pfählen im Fale Tele sind hierarchisch vergeben. Von allen Plätzen wird ein Blick auf die Versammlungsleiter, die die wichtigsten Clanmitglieder sind, gewährt. Wenn Versammlungen stattfinden, werden die Säulen mit frischem Blattwerk und blühenden Pflanzen verziert.
Neben diesem meist sehr zentral, an den Hauptwegen stehenden Fale Tele gruppieren sich weitere spezielle Fales. So gibt es solche als Küchen- oder Toilettenfales, als Fales zum Schlafen, als Aufenthaltshäuser. Die Küchen- und Toilettenhäuser stehen meist direkt auf dem Boden; hier sind keine hölzernen Fußböden eingezogen. Alle anderen Fales haben heute einen hölzernen Fußboden, der schwebend von den Haupt- und weiteren Stützpfählen getragen wird. Das unterscheidet sich von den Darstellungen meines Großvaters, denn er spricht in seiner Beschreibung von Böden, mit einer Schicht aus Korallen, die mit glatten Steinen bedeckt waren. Die heutige Bauweise mit Holzböden kann als eine Weiterentwicklung der Architektur durch den Einfluss der mit Boden und Decken erstellten Häuser der Kolonialherren gedeutet werden.
Typisch für diese Bauten ist, dass es keine Zwischen-, aber auch keine Außenwände gibt. Familiäre Geheimnisse scheinen – wie bereits mein Opa schreibt – in den samoanischen Lebensgemeinschaften nicht zu existieren. Die architektonische Hochleistung dieser Hauskonstruktionen ohne Nägel und Schrauben findet in meinen Augen leider keine ausreichende Würdigung. Sie hätte mindestens einen Titel, vergleichbar dem der UNESCO zum Schutz von immateriellen Kulturgütern, verdient. Diese Konstruktionen haben eine Lebensdauer von 50 Jahren. Eigentlich hätte ich vermutet, dass mein Opa von der Architektur besonders angetan wäre, studierte er doch nach seiner Militärzeit Ingenieurwissenschaften. Die besondere Konstruktion dieser Bauten wird detailliert von Lehner (2007)Siehe Literaturverzeichnis, Lehner: Das architektonische Erbe Samoas [24] beschrieben.
Heute findet man nur noch wenige nach alter Tradition erbaute Fale; sie werden immer mehr von modernen westlichen Gebäuden, so genannten Fale papalagi, ersetzt. Diese sind weniger belüftete und mit Fenstern verschlossene Gebäude (Foto 2). Heute finden wir neu gebaute Fales bei Staatsgebäuden, wie dem Parlament, dem Regierungspalast oder dem Tourismusbüro (Foto 3) im Zentrum Apias. Auch neue Hotelanlagen oder die National University of the South Pacific, weisen Fales auf.
Die Inseln Samoas bildeten, im Gegensatz zu Papua-Neuguinea, verstärkt eine gesellschaftliche und kulturelle Einheit durch die gemeinsame Sprache, ihre christliche Religion und ihr Sozialsystem. Hinzu kommt ein hohes Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Samoaner.
Die Mythologie der Samoaner beruht auf einem monotheistischen Gottesglauben, der ganz entscheidend bei der Missionierung durch die europäischen Christen Pate stand. In ihr ist Tangaloa
der Schöpfergott, der zuweilen auch als Tangaroa
bezeichnet wird. Tangaloa ist Schöpfer des Himmels, der Erde und aller Inseln.
Samoa wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine politische Einheit. Davor war die Haupteinheit das Dorf und überregionale Bündnisse hatten lediglich symbolischen Charakter und keine Wirkung auf die einzelnen Dorfgemeinschaften oder nach außen. Noch heute bilden dörfliche Großfamilien das wesentliche Element des Sozialsystems auf Samoa. Familien reichen über die Dorfgrenzen hinaus; doch werden die Angelegenheiten der Dörfer nur aus dem Dorf heraus, nicht durch die Mit- oder Einwirkung von außen, geregelt.
Jede Familienform vom verheirateten Paar bis zum Clan gemeinsamer Ahnen, oft bis zu über dreißig Generationen, bilden die Aiga
. Aus diesem Familiengeflecht leiten sich auch die Rechte auf bestimmte Titel und auf Landnutzung ab. Mit steigender Anzahl der Generationennachweise begründen die Mitglieder ihre Ansprüche auf höhere und höchste Titel. Ehepaare stammen gewöhnlich nicht aus der gleichen Dorfgemeinschaft.
Wie weit die familiären Bande gehen, zeigt, dass die ältere Schwester, auch nachdem sie schon ihr Dorf verlassen hat, weiterhin großen Einfluss auf ihre Brüder hat. Bei der Verleihung von Titeln an ihre Brüder hat sie ein Mitspracherecht und ihr Fluch, der nach der Mythologie Krankheit und Tod über die Familie bringen kann, ist sehr gefürchtet.
Innerhalb der Aiga gibt es unumstößliche Regeln, die insbesondere die Beziehungen zwischen Brüdern und Schwestern festschreiben. So suchen mit Beginn der Pubertät die Jungen und Mädchen zum Schlafen unterschiedliche Fale auf. Dieses wird unterstrichen durch den Austausch feiner Matten. Diese aus Blättern der Pandanuspalme ausschließlich von Frauen geflochtenen Matten haben den Ritus von wertvollen Statussymbolen. Sie werden zwischen den Geschwistern ausgetauscht und steigen im Wert, je feiner sie gearbeitet sind, zumal in ihnen die familiären Verwandtschaftsbeziehungen und Abhängigkeiten hineingewebt sein sollen. Einige Autoren schreiben den Matten bis heute auch noch einen Prestige- und Geldstatus zu.