Kanaken, Kannibalen, mein Opa und ich
Kapitel 29:
Ausflug nach Savaii
Um halb zehn holt uns ein Fahrer vom Hotel Fehmarn ab, damit wir in Mulifanua die Mittagsfähre zur Insel Savaii erreichen. Vor dem Fähranleger steht ein Fale, auf dem wir neben zwei bereits wartenden Damen Platz nehmen. Sie hatten die 12-Uhr-Fähre nur knapp verpasst und warten nun unter besonderer Spannung mit uns, da sie mit dem Auto anreisten und für die 14-Uhr-Fähre keine Buchung besaßen. Eine der beiden Samoanerinnen lebt seit ihrer Jugend auf Neuseeland und stattet derzeit ihrer Familie einen Besuch ab, wie fast in jedem Urlaub. Während der Wartezeit komme ich mit den Damen auf viele Themen zu sprechen. So geht es um die Umstellung des Rechts- auf den Linksverkehr in Samoa. Die vielen in Neuseeland und Australien lebenden Familienmitglieder, die hier Urlaub machen, wie sie selbst, würden eine Reihe von Unfällen verursachen. Es sei sehr schwer für sie, sich auf den Linksverkehr umzustellen. Sie zeigen aber auch auf, welche Probleme es mit sich bringt, wenn man als Samoaner im Ausland sein Geld verdient. In den Augen der Samoaner werden sie dann als sehr reich eingeschätzt. Da der Eigentumsbegriff weiterhin auf Samoa ausgelegt wird wie in vergangenen Tagen, erhalten die Auslandssamoaner Wunschlisten ihrer Familien, die vom schicken Hemd über einen Kühlschrank bis zum Auto reichen.
Auch kommt es vor, dass Verwandte, ihre Kinder zur Ausbildung zu mir schicken, ohne auch nur daran zu denken, dass die Wohngegebenheiten in Neuseeland ganz anders als in Samoa sind. Auch fehlt den hiesigen das Vorstellungsvermögen, dass der Verdienst in Neuseeland soeben für eine Person reicht, aber nicht für eine zusätzliche Person, die für ihre Ausbildung auch noch Semesterbeiträge zu entrichten hat. Dieses Problem tritt sehr häufig auf und ist der lieben Aiga daheim nicht zu erklären.
Als sie erfährt, dass ich aus Deutschland komme, strahlt sie. Das ist ein wunderschönes Land; ich war vor vielen Jahren einmal dort. Ich denke immer daran, wie sich Samoa wohl entwickelt hätte, wenn die Deutschen noch hier wären. Ob wir dann auch so schöne Häuser und Dächer hätten? Schade, dass wir nicht zu Deutschland gehören!
Die Nachmittagsfähre läuft pünktlich ein, unsere Gesprächspartnerinnen begeben sich in ihr Fahrzeug und wir kommen per Zufall fast als erste an Bord, wo ich zwei schattige Plätze finde; und zwar mittschiffs im Achterteil auf Kisten, in denen Schwimmwesten verstaut sind. Das Schiff schaukelt bei der Überfahrt nicht wenig; doch auf unseren Plätzen ist das Hin- und Herschaukeln erträglich. Aufgrund des Seegangs spucken viele Passagiere, andere versuchen auf dem Boden Halt zu finden. Grundsätzlich sind die Mitreisenden um einige Kilo schwerer als wir. Meine zierliche Frau wirkt wie eingeklemmt zwischen den Fleischmassen. Die Fähre stampft zunächst an den Inseln Manono und Apolima vorbei, bis wir in Salelologa den Fähranleger erreichen.
Der Bus in Richtung Puapua steht zur Abfahrt bereit. Dem Fahrer zeige ich einen Prospekt mit dem von mir ausgesuchten Unterkunftsplatz. Der Bus verlässt den Anleger und sucht seinen Weg entlang der Küste in Richtung Norden. Wer von den Fahrgästen aussteigen will, klopft mit einer Geldmünze an den Holm zwischen den Fenstern. Nur wenig später hält der Bus. Sehr diszipliniert verbleibt jeder auf seinem Platz, bis der Bus vollkommen steht. Erst dann erhebt sich der Fahrgast, um seinen Weg zum Ausgang zu finden. Beim Passieren des Fahrers stecken die aussteigenden Gäste dem Fahrer meist das abgezählte Geld in die Hand. Ein Mann mittleren Alters steckt dem Fahrer einen zehn Tala-Schein zu, dann lädt er in aller Ruhe seine Gepäckstücke und einen Benzinkanister aus, um erst ganz zum Schluss vom Fahrer sein Wechselgeld zu erhalten.
Jeder Bus auf den Inseln Samoas ist unverwechselbar durch seine sehr individuelle Gestaltung. In unserem Bus sitzt der Fahrer in einem bequemen, mit hoher Rückenlehne versehenen, ehemaligen PKW-Sitz, einen Lava-Lava tragend und völlig barfuß hinter seinem Steuer. Der Sitz ist in der Art montiert, dass der Chauffeur völlig entspannt, mehr liegend als aufrecht sitzend, seinen Bus von Station zu Station lenkt. Wer in einen Bus einsteigen will, steht am Fahrbahnrand und weist mit seinem Arm schräg nach unten, um so seinen Mitfahrwunsch anzudeuten. Man erkennt schnell, dass der Busfahrer nicht nur Busfahrer ist, nein er stellt eine Persönlichkeit dar, die durch die Ausstattung des Führerhauses und die lässige Art des Fahrers auf seine Fahrgäste ausstrahlt.
Nach gut einer halben Stunde erreichen wir die etwa zwanzig Kilometer vom Fähranleger gelegenen Lauiula Beach Fales. Der Fahrer macht uns auf die Haltestelle aufmerksam. Wir stehen auf, ich drücke dem Fahrer fünf Tala in die Hand. Diese Summe hat er mir bei einem Halt an einer Tankstelle genannt: Two Tala fifty each!
Von einer netten, sehr hübschen, jungen Samoanerin, die hinter einem geschnitzten Tor steht, werden wir empfangen, und unsere positive Erwartung steigt, als wir sie nach einem Fale fragen. Ihre Antwort, dass die Anlage komplett ausgebucht ist, enttäuscht uns. Alles sieht sehr sauber und adrett aus. Ein überdachter Aufenthaltsraum mit festem Dach auf geschnitzten Pfählen und Balken, mit gefliestem Boden, alles wirkt sehr einladend.
Mit unseren beiden kleinen Rucksäcken auf dem Rücken verlassen wir traurig die einladende Stätte und gehen zu den direkt angrenzenden Joelan Beach Fales. Ein breites, aus Latten zusammengehauenes und mit Stacheldraht gesichertes, offen stehendes Tor müssen wir kreuzen, um die mit Wellblechdach und Holzzaun umgebene Hütte zu erreichen. Dabei passieren wir nach mehreren Metern Sand, vorbei an einem Haufen Müll und mehreren grünen und braunen leeren Literflaschen der Biermarke Vailima
, einigen liegenden Hunden, die von uns gestört aufstehen und sich, an uns schnuppernd, über den Sand bewegen, ein kleines Ferkel begleitet sie. Es hat keine Scheu, die offene, überdachte Veranda aufzusuchen, wo an Tischen Frühstück und Abendessen eingenommen werden.
Hier empfängt uns die freundliche, runde, um die vierzig Jahre alte Samoanerin Valeri. Im hinteren Teil des Raumes legt ein jüngeres Mädchen Wäsche zusammen. Es sind noch Fales frei und ich bezahle je 50 Tala pro Person, Nacht, Frühstück und Abendessen. Das entspricht nach unserer Währung etwa 15 Euro. Valeri holt eine Schreibkladde und einen Pappkarton. In Erstere notiert sie unsere Namen und unsere Staatsangehörigkeit, in den Pappkarton steckt sie meine 200 Tala für die kommenden beiden Nächte. Unterdessen stattet ein junges Mädchen unsere Fale aus und bereitet sie für uns vor.
Die Beach Fales sind Ansammlungen von einzelnen Fales, die einem Besitzer gehören und dadurch in ihrer Anzahl variieren, so können es zehn aber auch 15 einzelne Unterkünfte ein. Die meist direkt am Wasser liegende Fale ist eine etwa vier mal drei Meter große, auf Pfählen stehende, ovale Plattform aus Holzbrettern, die von einem aus Palmenwedeln gedeckten Dach vor Regen und Sonne geschützt ist. Zwischen den Pfählen befinden sich rundum zwölf Öffnungen. Diese sind, mit Ausnahme des Eingangs der Fale, direkt über der Plattform mit zwei sich kreuzenden Brettern und einer Querlatte, die genau zwischen die Pfähle passt, versehen. Die Pfähle ragen gut einen Meter aus dem Sand, bevor die Plattform ansetzt. So kann sie vom Meerwasser unterspült werden.
Letztlich fühlen meine Frau und ich uns bei Valeri sehr wohl und sind bestens versorgt. Es gibt nicht nur ein reichliches Frühstück, sondern auch ein leckeres Abendbrot, und da wir zu Mittag anwesend sind, gilt es als selbstverständlich, dass wir auch dieses ohne Preisaufschlag einnehmen. Valeris Mann zeigt uns am folgenden Tag die Insel Savaii. Begleitet werden wir dabei von seiner Geliebten, die gut zwanzig Jahre jünger sein dürfte als Valeri.
Der westlichste Punkt der Insel Savaii ist zugleich der, der Datumsgrenze am nächsten gelegene Landpunkt auf der Erde. Nirgends sonst auf der Welt geht die Sonne später unter und wird der Tag weltweit beendet. An dieser westlichsten Spitze der Insel, dem Cap Mulinuu, wurden ursprünglich die Toten beigesetzt. In der Geschichte Samoas ist dieses felsige Wasser das Tor in das Totenreich. Hier werden alle Menschen in das Totenreich gerissen, um dann später wieder aufzusteigen. Die Missionare haben diese für sie barbarische Bestattungsart durch die Erdbestattung abgelöst. Für die Samoaner verbindet die Wasserbestattung am Punkt, wo die Sonne untergeht und der Tag endet, das Tages- mit dem Lebensende, aber auch dessen Neubeginn. Die Geister tragen die Seelen der Verstorbenen durch das Felsental im Wasser zu deren Erlösung, denn am Ende des Tales beginnt das Geisterreich, von dem alles Leben wieder ausgeht.
Mein Großvater notierte:
»Falke« ging am 6. Juni nach Savai, um Waffen der Mataafa-Partei abzuholen, die beiden Korrespondenten Dr. GenteDer Geograph Siegfried Genthe schildert die Eindrücke seiner Reise nach Samoa im Jahr 1899 in seinem Buch:Samoa frühe Reiseschilderungen mit S.M.S. »Falke«, Berlin 1908 [68] und Mr. Lee machten die Tour mit. Das Einsammeln der Waffen wird mühselig. Es gibt keine Sammelstelle, an der die Einheimischen sie abgeben könnten. Mühsam dampft »Falke« sich von Ort zu Ort, wie nach Falelima oder Falealupe, wo einzelne Gewehre, nach Matautu wo zwölf Gewehre und wieder nach Falelima wo erneut 14 Gewehre ausgehändigt wurden.
Die Zeit lässt es aber auch zu, dass mein Opa Gelegenheiten bekommt, mit den Leutnanten Wolf und Müller Reitpartien nach Vailele, Malia oder Vaiaele zu unternehmen. Zum Beweis dafür, dass mein Opa nicht grade ein ausführlicher Erzähler ist, möge sein Hinweis vom 14. Juni 1899 beispielgebend sein, wo er notiert:
In der Nacht ersäuft Franz unser Dingi.
Den Verlust des Dingi beschreibt Genthe (1908)Siehe Literaturnachweis: Genthe, Siegfried, Samoa frühe Reiseschilderungen mit S.M.S. »Falke«, Berlin 1908 [69] folgendermaßen:
So saß ich eines Abends nach dem Essen mit dem Kommandanten auf der Hütte, bei kühlem Trunk und Tabak plaudernd und Reiseerinnerungen austauschend, als plötzlich der Ruf
Mann über Bord
ertönte und alles wie von der Tarantel gestochen aufspringen machte. Ich hatte diesen verhängnisvollen Ruf schon manches Mal bei Manövern gehört und mich selbst dabei nicht einer gewissen Erregung erwehren können. Jetzt aber war ein wirkliches Unglück geschehen: Herr Gosche, der Vertreter der Hamburger Firma, hatte an Bord noch spät abends seinen Besuch gemacht und war in der kleinen DingiDas Dingi (auch Dinghi oder Dinghy sind gebräuchlich) ist ein kleines Beiboot, das von einer einzelnen Person bedient werden kann. [70], nur von einem Matrosen begleitet, an Land zurückgesegelt. Unterdessen hatte sich ein hässlicher böiger Wind aufgemacht, der hinter den Bergen hervor kam und besonders hinter einer Einsattlung mit bedrohlicher Macht hervorblasen musste. Sobald das kleine flache Boot in jenen Gürtel starken, noch immer auffrischenden Windes geriet, wollte es den Kurs ändern und über Stag gehen. Der Winddruck von der anderen Seite setzte aber mit so unvermuteter Gewalt ein, dass die Segel sofort die Wasserfläche berührten. Ein Fahrenlassen der Schoot war nicht möglich, da sich der Händler, der das Ruder führte, das Tau unbegreiflicherweise ums Bein gebunden hatte, und so kenterte denn das Fahrzeug, und beide Insassen gerieten unter das Boot. Die Hilferufe waren beängstigend anzuhören. Die Nacht war stockdunkel, der Mond hatte sich hinter einer festen Wolkenbank verschanzt, und von Bord aus war nichts zu sehen. Die Gemütsruhe des Kommandanten war bewundernswert, mit lauter, weithin schallender Stimme gab er sein Kommando alle Boote klar zum Fieren
und rief dann den Unglücklichen, die schon 600 Meter weit vom Schiff entfernt zu sein schienen, das tröstende Wort zu: Halten Sie sich am Boot fest, Hilfe gleich da!
In weniger als zwei Minuten waren die Jollen längsseits und das erste Boot setzte vom Steuerbord ab. Es war mäuschenstill. Mir schlug das Herz in banger Erwartung. Nur das Rauschen der machtvollen Ruderschläge war zu hören und dann und wann die anfeuernde Stimme des wackeren Bootsmannes, der als freiwilliger mit in die Rettungsjolle gegangen war, Pull aus Jungens, pull aus!
Es war eine große feierliche Szene. Aber alsbald hörte man aus weiter Ferne den Ruf: Wir haben sie beide
. Das Boot war zwar versackt und dahin, die beiden Abenteurer kamen wie zwei nasse Pudel, aber sonst ganz munter, an Bord, ohne von Haifischen angezapft worden zu sein, und die Plauderstunde auf Achterdeck nahm ihren Fortgang, als ob nichts vorgefallen wäre.
[69] Siehe Literaturnachweis auf Seite 33: Genthe, Siegfried, Samoa frühe Reiseschilderungen mit S.M.S. »Falke«, Berlin 1908
[70] Das Dingi (auch Dinghi oder Dinghy sind gebräuchlich) ist ein kleines Beiboot, das von einer einzelnen Person bedient werden kann. Es wird entweder mit einem Außenbordmotor oder mit Riemen angetrieben.
Ursprünglich kommt das Dingi aus Ostindien (Bengalen). Dort bezeichnete man so ein einfaches Plankenboot, das ohne Kiel und Spanten gebaut wurde.
In der britischen Royal Navy und der deutschen Marine bürgerte sich die Bezeichnung Dingi Anfang des 19. Jahrhunderts ein und bezeichnete dort ein kleines Beiboot in Knickspantbauweise. Es wurde von einem Mann gerudert und diente zur Beförderung von Personen. Als Beiboot werden heutzutage häufig Schlauchboote benutzt.
Im Englischen bezeichnet der Ausdruck sailing dinghy generell eine Segeljolle. Deshalb enthält die Typbezeichnung von Jollen auch den Namen dinghy. Eine bekannte Rennjollenklasse ist das Internationale 14-Fuß-Dinghy.
- Lt. Duden sächlich: Das Dingi