Kanaken, Kannibalen, mein Opa und ich
Kapitel 17:
Docken in Sydney
„Bis heute, den 20. Januar 1898, blieben wir in Auckland. Um sieben morgens gingen wir in See nach Sydney, wo wir am 27. Januar an unsere bekannte Boje in Fram Cove gingen, außer der »Falke« war kein Schiff im Hafen.“
Kaisers Geburtstag am 31. Januar verlief ziemlich ruhig, gleich nachdem wir fest lagen, wurde das Schiff illuminiert. Wir verholten nach Morts-Dock zu einer größeren Kesselreparatur.
Der Sydneyer Leuchtturm ist schon aus einer Entfernung von 60 Seemeilen von See aus sichtbar, kommt man jedoch näher, so bemerkt man die nur schmale Einfahrt, zwischen den nach beiden Seiten sich schroff erhebenden Felswänden, deren Kuppe Leuchttürme und Signalstationen krönen.
Die Einfahrt ebenso wie der Sydneyer Hafen sind in der Tat märchenhaft schön. Man könnte sich auf der rings von bewaldeten Bergen eingeschlossenen Bucht an einen der italienischen Seen versetzt denken. Von stolzen Höhen und aus malerischen Schluchten grüßen uns prächtige Paläste und lieblich in blühenden Gärten gelegene Villen. Überall an den Ufern liegen kleinere Ortschaften verstreut, zwischen denen und der Hauptstadt unzählige hübsche Dampfboote einen lebhaften Verkehr unterhalten. Ich kenne keine Hafenstadt, die auf den von See kommenden Fremden einen freundlicheren und einladenderen Eindruck macht als Sydney, dieKönigin des Südens. Zudem ist der ganze Hafen, welcher keine Untiefen aufzuweisen hat, ein vorzüglicher Ankerplatz, seine Tiefe geht von zehn bis 38 Metern.
Mit fast 400.000 Einwohnern, davon 20.000 Deutschen, ist Sydney die zweitgrößte Stadt Australiens und als Hauptstadt von Neu-Südwales die Metropole der reichen australischen Kolonie, deren jährliche Ein- und Ausfuhr sich auf nahezu eine Milliarde Mark beläuft. – Die Stadt selbst ist sehr planmäßig der Neuzeit entsprechend gebaut, wenn dieselbe auch im Verhältnis nicht so breite Straßen hat wie die jüngeren australischen Städte, fehlt es hier nicht an Straßenbahnen und sonstigen Verkehrsfahrzeugen, kolossalen Geschäftshäusern, Banken, vortrefflichen Gaststätten; alle zusammen geben der Stadt ein prächtiges Aussehen, namentlich ist die erst in diesem Jahr eröffnete Markthalle zu erwähnen, das Hotel Royal-Navel-House. Außerdem besitzt Sydney ein Parlamentsgebäude, Postpalais, Universität, eine Town Hall mit riesenhafter Orgel und unzählige Kirchen (die Kathedrale), sowie Zoologische und Botanische Gärten, ein zoologisches und ethnographisches Museum, Denkmäler, Clubs, Rennbahnen usw. sowie verschiedene Parks, welche teilweise eine ungeheure Ausdehnung haben.
Was die Industrie betrifft, fehlt es auch nicht an Fabriken, namentlich sind die Fleischgefrieranstalten zu erwähnen, wo insbesondere Hammel eingefroren und in besonders dazu eingerichteten Schiffen in alle Weltteile versandt werden. Aaber auch Fische und Geflügel werden eingefroren, ja selbst australische eingefrorene Blumen habe ich gesehen, welche nach England verschickt werden.
In den einzelnen australischen Kolonien herrschen permanent Meinungsverschiedenheiten, jede Kolonie will der anderen zuvorkommen, um sich nun gegenseitig zu zanken, schlagen sie sich einander ein Schnippchen, wo es nur immer angeht, so bauen sie Eisenbahnen von verschiedenen Spurweiten, führen Zollkriege und veranstalten sonstige Narreteien nach europäischem Muster.
Die Zeit, wo es in Australien keinen Ureinwohner mehr gibt, wird nicht mehr fern sein, es sollen noch etwa 59.000 Eingeborene in Australien leben, die sich nur schwer, öfter aber gar nicht an die Zivilisation gewöhnen. Sie leben meist im Busch in elenden Hütten, in die Städte kommen sie nur selten, ich möchte sagen, dies ist das garstigste und unfreundlichste Volk, das ich je gesehen habe.Da wir dieses Mal so lange Zeit in Sydney waren, und viele von den Kameraden einen ganzen Bekanntenkreis gesammelt hatten, gaben wir an Bord ein Fest mit Ball, wozu sich sehr viele Bekannte eingefunden hatten. Das Ganze verlief äußerst gemütlich, es war sozusagen recht gelungen.
Am Vormittag des 25. Februar kam S.M.S. »Bussard« mit dem neuen Kapitän Mandt nach Morts-Dock und ging an die Piere. Die Kameraden befanden sich alle wohl, nur das Schiff sah sehr vernachlässigt aus. Deshalb hatten die Kameraden manchen Spott zu ertragen. Wir machten unsere Probefahrt vor Port Jackson. Verschiedene Herren von Morts-Dock kamen an Bord, um das Verhalten des S.M.S. »Falke« auf See auch mal kennen zu lernen. Alle lernten kennen, was es bedeutet, Neptuns Forderungen nachzukommen und waren froh, danach in der Neutral Bay vor Anker zu gehen.
Am 10. April haben wir Ostern gefeiert. Da ich zufällig einen Kalender in die Hand bekam, sah ich, dass ich ja auch meinen 22. GeburtstagDie Datumsangaben im Tagebuch meines Opas weichen teilweise erheblich von denen von Hildebrand et al (1980) ab. Nach Hildebrand taucht SMS »Falke« am 10.11.1897, lt. meinem Opa am 13.12.97 vor Apia auf, auch übernahm laut meinem Opa KK Schönfelder am 12.10.1898 das Kommando in Apia und nicht, wie Hildebrand schreibt, am 1.9.1898 in Sydney. [26]> tags zuvor hatte.
Zunächst glaubt man, dass mein Opa Mitleid mit den AboriginesDie Aborigines (englisch [Ureinwohner
) sind die Ureinwohner Australiens. Sie besiedelten vor etwa 40.000 bis 60.000 Jahren den Kontinent vom Norden ausgehend.Siehe Wikipedia.org [27] hatte, die vom Aussterben bedroht seien. Doch mit der Beschreibung dieser Einheimischen, die er als das garstigste und unfreundlichste Volk
, das er je gesehen hatte, beschrieb, schien sein Mitgefühl nur sehr eingeschränkt zu sein. Tatsächlich vermute ich jedoch, dass diese Aussagen zu den Eingeborenen nicht von meinem Großvater stammen, berichtete er doch an keiner Stelle, dass er die Gelegenheit hatte, ins Landesinnere zu reisen, wo sie angeblich in schrecklichen Verhältnissen lebten und resistent gegen europäische zivilisatorische Einflüsse waren. Heute leben zwischen 550.000 und 645.000 Aborigines in Australien.
Von realen Begegnungen mit australischen Gottesdienstgängern wird von meinem Opa nichts niedergeschrieben. Auch weiß ich nichts über sonstige Begegnungen meines Großvaters mit Australiern, die dazu gar geführt hätten, dass er sie zum Ball an Bord eingeladen hätte. Er schilderte aber diese Begegnungen an Bord, als hätte er persönlich daran teilgenommen und nicht nur als Mannschaftsglied die Funktion von Ordonanzen übernommen; denn er bezeichnete den Ball als äußerst gemütlich und sehr gelungen. Warum sollte er dieses notieren, wenn er nicht zu den Gastgebern gehört hätte. Schade, dass er uns weitere Details vorenthält!
Auf dem kleinsten Kontinent angekommen, schien es eine Erlösung für meinen Großvater, nicht mehr unter den Kanaken zu weilen. Bisher hatte er jedoch nie berichtet, dass er darunter hätte leiden müssen. Waren es wirklich die Kanaken oder hatte er unter Einsamkeit gelitten? In all seinen Schilderungen wurde bisher nichts über reale Begegnungen mit Einheimischen geschrieben. Auch fehlten Aussagen über die vielen Landaufenthalte in Sydney, die er uns hier versprochen hatte.
Die Art, wie mein Opa von seinem Geburtstag berichtete, zeigt mir, in welcher Anonymität diese jungen Soldaten zusammenlebten. Drei Jahre von der Heimat entfernt, drei Jahre im Pflichtwehrdienst und nicht einmal eine Gratulation des Kommandanten oder eines anderen Vorgesetzten zum Geburtstag. Auch für seine Kameraden hatte dieser für uns heute sehr persönliche Tag keine oder kaum eine Bedeutung. Wenn diese Soldaten nun fast ein Jahr auf engstem Raum zusammenlebten, frage ich mich heute, waren die persönlichen Begegnungen, waren Alter, Geburtstage, Familiennachrichten Inhalt ihrer Gespräche? In jener Zeit hatten Geburtstage einen untergeordneteren Stellenwert als heute. Wenn überhaupt, waren es in bürgerlichen Häusern reine Familienfeiern, zu denen Geschwister und gegebenenfalls noch Cousinen und Cousins erschienen und an der Kaffeetafel anlässlich des Geburtstages teilnahmen.
[27] Die Aborigines (englisch [ˌæbəˈɹɪdʒɪniːz],
Ureinwohner) sind die Ureinwohner Australiens. Sie besiedelten vor etwa 40.000 bis 60.000 Jahren den Kontinent vom Norden ausgehend. Aborigines sind kein einheitliches Volk, sondern bestehen aus Stämmen oder Clans mit oft höchst unterschiedlichen Gebräuchen und Sprachen: Je nach Definition und Quelle gab es vor der Ankunft der Briten etwa 400 bis 700 verschiedene Stämme der Aborigines, die vorwiegend als Jäger und Sammler lebten. Mit der Ankunft der Europäer ab 1788 sank ihre Zahl von geschätzten 300.000 bis 1.000.000 Einwohnern auf 60.000 im Jahr 1920, hauptsächlich wegen eingeschleppter Krankheiten, aber auch durch gewaltsame Konflikte mit den Siedlern um Landrechte.