Kanaken, Kannibalen, mein Opa und ich
Kapitel 16:
Abstecher nach Neuseeland
„Bald kam auch die Zeit, wo wir auch dieses schöne Stückchen Erde verlassen mussten. In Apia nahmen wir Wasser, Kohle und Vieh und gingen am 13. Dezember in See nach Auckland. Die Überfahrt war ziemlich angenehm. Bei der Überquerung der Datumsgrenze, dem 180. Längengrad, fiel der 20. Dezember aus.“
Am 21. Dezember bekamen wir die Küste Neuseelands in Sicht und bald fuhren wir an der landschaftlich so schönen Küste entlang, bis gegen halb vier nachmittags unser Anker in die Tiefe des Hafens von Auckland rauschte. – Neuseeland bilden die Nord-, Süd- und Stewardinseln.
Neuseeland wurde im Jahre 1642 von dem Holländer Abel Janszoon Tasman enlieckt, ist jedoch erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts von Kapitän Cook erforscht worden. Die Ureinwohner, die Maoris, sind auf Wangen, Lippen und Kinn schauerlich tätowiert, früher huldigten dieselben dem Kannibalismus, heute haben die Maoris jedoch neben dem weißen Mann ihren Sitz im Parlament. – Die Zahl der heutigen Bevölkerung beträgt gegen 700.000, davon 50.000 Maoris und 5.000 Deutsche. Im Jahre 1848 wurde Neuseeland eine englische Kolonie.
Die Hauptausfuhrprodukte sind: Wolle, gefrorenes und gesalzenes Fleisch, Talg, Getreide, Harz (Kauri Gum), Holz, Kohle und Gold. Die Gesamtausfuhr von Gold in den letzten 50 Jahren beträgt etwa 1.000.000.000 Mark. 15 – 16.000.000 Schafe werden jährlich ausgeführt.
Wenn Sydney sich mit einigen amerikanischen Städten um die Ehre streitet, den schönsten Hafen der Welt zu besitzen, so wird Auckland das Recht, sich neben Sydney als schönsten Hafen der südlichen Halbkugel zu nennen, gewiss von keiner Seite bestritten werden.
Einen herrlichen Überblick über die Stadt und den Hafen erhält man von dem rund 200 Meter über dem Meere sich erhebenden Mount Eden. Zu Füßen liegen die beiden, den Hafen bildenden Buchten, im Hintergrund der erloschene Vulkan Rangitoto, die Waitakerei-Hügelkette und die Coromandelberge, während weit im Osten die Umrisse von Great Barrier-Islands sichtbar sind, die Zahl der von Mount Eden aus sichtbaren Krater sind mit 63 angegeben. Zur Stellung der Frauen in der hiesigen Gesellschaft ist noch zu erwähnen, dass die Neuseeländer Frau in den Parlamentswahlen stimmberechtigt ist, ja in Onehunga hat man sogar einen weiblichen Bürgermeister.
Ferner will ich das heiße Quellengebiet, welches im Inneren Neuseelands liegt, noch erwähnen, mit seinen berüchtigten, teilweise allerdings im Jahre 1886 durch einen vulkanischen Ausbruch verschütteten Terrassen, seinen Geysiren, heißen Seen und Schlammvulkanen.
Obwohl die Sonne hier noch hoch am Himmel stand und man der Natur nichts anmerken konnte, stand doch im Kalender der 24. Dezember, also Christ-Abend. Tags zuvor hatten wir nicht geruht, dem Schiff ein festliches Aussehen zu geben, überall wohin man blickte, war es musterhaft sauber. Aber auch in der Heimat hatte man uns nicht vergessen, Weihnachtsbäume waren aus Deutschland gekommen, und der sonst so raue Matrose schmückte heute seinen Christbaum, gerade wie in den schönsten Kinderjahren.
Um vier Uhr nachmittags war Festgottesdienst, die Kapelle spielte Weihnachtslieder, hieran schloss sich eine Verlosung von Geschenken, jeder bekam etwas, auch Nüsse und Äpfel wurden verteilt. Um acht Uhr ging der Kommandant durch das Schiff, wo auf jeder Back ein Baum im Lichterglanz prangte, daneben Transparente von kräftigen Sprüchen. – An den Feiertagen konnte die Freiwache an Land gehen, in der Stadt trat uns Deutsche die so sehr empfindliche Sonntagsruhe entgegen, hier und dort Redner oder religiöse Sekten, namentlich oft die Heilsarmee zu erwähnen, welche mit Musik, singend, spielend oder redend von einer Straßenecke zur anderen zog. Die Stadt selbst bietet wenig Reizbares, ganz auf Hügeln gelegen, ist sie so englisch wie möglich gehalten. Wir hatten sehr angenehmen Dienst, die Freiwache wurde jeden Nachmittag beurlaubt, wobei wir merkten, dass Auckland ein sehr teures Pflaster ist.
Silvester, das Schiff war auf beiden Seiten der Reling vom Heck bis zum Sporn elektrisch illuminiert, zwischen Groß- und Fockmast hing das große Transparent »1898«, welches Punkt acht GlasVier Stunden nach Wachbeginn, hier Mitternacht. [25] erleuchtet wurde, viele Vergnügungsdampfer kreuzten um den »Falke« herum, deren Kapellen fleißig zum Tanz aufspielten, sobald sie jedoch längsseits waren, spielten sie deutsche Nationallieder, welche unsere Kapelle durch Englische erwiderte.
In dieser Passage gab mein Opa viele Informationen über Neuseeland, ohne uns zu verraten, wo er abgeschrieben oder wer ihn mit diesen Informationen versorgt hatte. So berichtete er von dem Enliecker Abel Tasman, gab Eckdaten zur Bevölkerung und Wirtschaft. Hatte die Marine bereits zu jener Zeit entsprechende Literatur an Bord, oder gab es Schulungen durch die Offiziere für die einfachen Soldaten?
Durch das Anlaufen von Neuseeland – militärische Gründe wurden hierfür nicht erwähnt, auch stand keine Schiffsreparatur bevor – wurde den Soldaten sicherlich einiges geboten. Man könnte vermuten, dass dieses eine gewisse Kompensation für die Monate langer Entbehrungen darstellte. Ausnahmsweise liefen sie zum Weihnachtsfest die Inseln von Neuseeland und den wunderschönen Hafen Auckland an. Von Verpflichtungen, wie ich sie von Aufenthalten in Sydney her kenne, war diesmal keine Rede. Im Gegenteil, die Freiwache konnte und wurde wohl intensiv genutzt, um das Schiff zu verlassen und Landluft einzuatmen. Trotz dieser vielen Freiheiten und vielleicht auch Freizeiten erfahre ich von meinem Opa kaum etwas über die Stadt, die Geschäftigkeit seiner Bevölkerung und die weihnachtliche Stimmung in der Welt- und Hafenstadt Auckland. Kaum kann ich glauben, dass die Beschaffung einer weiteren Kladde zum Ruin eines Soldaten geführt hätte. Wie sonst soll ich heute begreifen, dass ein einmonatiger Aufenthalt in einer neuen Welt mit für junge Menschen sicherlich einmaligen Erlebnissen und Begegnungen gerade mal auf gut vier Kladdenseiten Erwähnung findet?
Oder liege ich mit meinen Vorstellungen von einem Soldatenleben vor gut 100 Jahren völlig daneben? Ich glaube, so ist es. Tatsächlich schrieb mein Großvater ja, dass sie die Feiertage, und nur über diese Tage berichtete er und sprach in diesem Zusammenhang von Freizeit, nutzen konnten. Die Schiffe waren crewmäßig natürlich nicht so ausgerüstet, dass eine echte Freizeit in den Häfen gegeben war. Dann konnten die Jungs lediglich die nachmittägliche Freiwache nutzen. Bei einem Tag von 24 Stunden ergaben sich an Bord täglich drei Wachen von jeweils acht Stunden. Es war also überhaupt nicht daran zu denken, einen Blick über die Stadt Auckland hinaus, in die Umgebung wahrzunehmen. Deshalb konnte mein Großvater nach meiner Meinung nur über heiße Quellen vom Hörensagen sprechen, denn die Freizeit betrug maximal acht Stunden, davon ging Zeit zum Anlegen der Ausgehkleidung oder der Ausgehuniform und für das Ausbooten oder für das Von-Bord-Gehen noch ab. Hinzu kam, dass die meisten Häfen nicht gerade in den interessantesten Gebieten einer Stadt lagen und Zeit notwendig war, um Wege bis ins Zentrum zurückzulegen.
Wenn ich dieses berücksichtige, erhält der Bericht über den Aufenthalt in Auckland in meinen Augen einen ganz anderen Stellenwert. Deshalb glaube ich unterscheiden zu müssen, was mein Opa repetierte und was eigene Berichte waren. Die Fakten über die wirtschaftliche Situation, Angaben zu Im- und Export und zur Geschichte Neuseelands hat mein Großvater entweder im Rahmen von militärischen Unterweisungen oder durch Eigeninitiative sich aneignen können. Dieses Wissen hielt er in seinen Aufzeichnungen für sich und die Nachwelt fest. Anders verhielt es sich scheinbar mit der Beschreibung der Lage und der Schönheit des Hafens. Hier gab mein Opa das wieder, was er tatsächlich während des einmonatigen Aufenthaltes an Bord des S.M.S. »Falke« persönlich täglich beobachtete.
Seine Beschreibung der feierlichen Reinigung des Schiffes und des Schmückens der Weihnachtsbäume erscheint für mich ebenfalls in einem ganz anderen Licht. Der junge Hermann Weichert, weit weg von daheim, schien so gerührt, dass ihm praktisch ein Kloß im Hals stecken blieb. Die Weihnachtsbäume auf jedem Tisch des Schiffes schienen ihm ein persönlicher Gruß aus der Heimat zu sein, wenn er schrieb:
Auch in der Heimat hat man uns nicht vergessen.
Er war für mich so gerührt, dass er dieses tolle Ereignis gar nicht auszuschmücken wagte, sondern eine fast nüchterne Wiedergabe des feierlichen Geschehens festhielt.
Auch wenn im Tagebuch von mehreren Nachmittagen berichtet wird, die die Freiwache nutzen konnte, dürften es doch nur maximal zwei Weihnachts- und ein Neujahrtag gewesen sein. In Auckland sind es Feiertage; mein Großvater spricht von Sonntagsruhe. Also ist nicht sehr viel los. Lediglich in den Parks halten, nach englischer Manier, Bürger freie Reden, und der Gesang der Heilsarmee prägt seinen Eindruck von Auckland. Sicherlich etwas Besonderes, diese Kultur der freien Rede in der Öffentlichkeit, etwas, das er und auch wir aus Deutschland nicht kennen.