14Feb2020

Das Gedächtnis

Margot Bintig

„Gedächtnis bezeichnet die Fähigkeit von Lebewesen, aufgenommene Informationen umzuwandeln, zu speichern und wieder abzurufen. Im Gedächtnis gespeicherte Informationen sind das Ergebnis von bewussten oder unbewussten Lernprozessen.“ Soweit die stark gekürzte wissenschaftliche Erklärung.

Bei Computern, der künstlichen Intelligenz und anderen Lebewesen mag das ja stimmen, aber bei mir als Mensch ist das wohl anders. Völlig unnütze Informationen werden gespeichert, wesentliche kommen oft in den Papierkorb. Das Abrufen von wichtigen Dingen, wie zum Beispiel Namen, wichtige Termine, passende Bezeichnungen sowie Geheim-, Konto- und Telefonnummern funktioniert oft nicht richtig.

Bei den Namen, die mir auch bei alten Bekannten nicht sofort einfallen, kommt mir das norddeutsche Moin sehr entgegen. Das ist besser als Guten Morgen Frau brummel, brummel, Guten Tag Herr …, Wie war doch gleich ihr Name? Oder noch schlimmer, einen falschen Namen zu sagen.

Um wichtige Termine zu verwalten, hilft mir der Terminkalender. Vorausgesetzt, ich trage die Daten auch am richtigen Zeitpunkt ein und ich vergesse nicht, rechtzeitig hineinzuschauen. Einige Geburtstagskinder, denen ich zu früh oder zu spät gratuliert habe, können davon berichten. Die Telefonnummern habe ich ausgelagert in mein schnurloses Telefon und das Smartphone.

Bei fehlenden Worten mitten im Satz wird es peinlich. Mit Dings, Dingsbums, äh und Dingelskirchen kommt kein gutes Gespräch zustande. Allerdings kommt es hier immer wieder zu Gelächter, denn meinen Gesprächspartnern geht es oft auch nicht besser. Gemeinsames Leid und gemeinsames Lachen verbinden.

Beim Speichern und Abrufen der Informationen ist es ähnlich wie beim Computer, irgendwann ist die Festplatte voll.

Ich war während meines Berufslebens auf unzähligen Seminaren und Fortbildungskursen. Wenn Sie denken, ich sei dadurch schlauer geworden, irren Sie sich. Es ging dabei nicht um wissenschaftliche Fortbildung, sondern überwiegend um Recht und neue Gesetzgebung. Kamen zu Anfang meiner Tätigkeit nur selten Gesetze oder Bestimmungen neu dazu oder wurden geändert, sind die Abstände später immer kürzer geworden und zuletzt gab es mehrmals im Jahr Neuerungen. Und was ich nicht für möglich hielt: Gesetze wurden auch rückwirkend geändert.

Bei jeder Änderung musste mein Gedächtnis die neuen Bestimmungen aufnehmen und gleichzeitig die alten, jetzt ungültigen Paragrafen entfernen. Im Laufe der Jahre und mit zunehmender Änderungshäufigkeit funktionierte das immer schlechter. Die alten Informationen vermischten sich mit den neu aufgenommenen und mein Gedächtnis speicherte Informationssalat. Wie war doch die neue Grenze oder Regelung? Ach nein, das war doch im Vorjahr, oder doch nicht?

Von nun an gab ich spontan keine fachlichen Auskünfte mehr, sondern vergewisserte mich erst durch meine schlauen Bücher. Leider waren diese nach dem Drucken oft schon veraltet. Bei ganz dringenden Angelegenheiten verließ ich mich nur auf den Bundesanzeiger. Elende Sucherei, aber der Steuerberater hatte die gleiche Quelle und kostete 400 D-Mark die Stunde. Auf Suchmaschinen im Internet musste ich noch warten.

Heute kann ich zum Glück fast alles im Internet nachsehen. Ob bei einer Lektüre oder beim Fernsehen, ich habe jetzt immer mein Smartphone zur Hand, um unbekannte Worte, Namen oder Zusammenhänge zu suchen. Vor kurzem gab es im Fernsehen die Romanverfilmung Das Feuerschiff. Der Autor dieses Romans saß zu Beginn des Filmes an der Reling und lachte kurz in die Kamera. Ich habe ihn genau erkannt, das war doch …? Wie hieß er doch noch gleich? Ja klar, Max Frisch! Nein, der doch nicht. Mein Gedächtnis ratterte, doch der passende Name fiel mir nicht ein. Mit Hilfe von Google hatte ich ihn sofort: Ja natürlich – Siegfried Lenz! Wusste ich doch, der Name hat etwas mit frisch zu tun.

Ich freue mich, wenn ich durch das Internet immer wieder etwas dazulernen kann. Denkste! Es passiert häufiger, dass mir der Suchmaschinen-Gigant innerhalb eines Sekundenbruchteils sagt: Du hast diese Seite bereits zwei Mal besucht. Ich hatte es bereits wieder vergessen.

Wenn ich aber etwas Bestimmtes suche und nicht weiß, wie ich es benennen soll, füttere ich Google mit ein paar Worten, die mit dem Gesuchten im Zusammenhang stehen. Nun geht die Fahrt in die Tiefen des Internets los. Ich komme auf Webseiten, die ich nie nachgefragt habe, aber interessant finde, darüber wieder auf Seiten, die ich niemals besuchen würde. Ist das Interesse erst mal geweckt, sehe ich neugierig auch da mal rein und komme immer tiefer in eine Welt, die nicht die Meine ist. Es ist abenteuerlich, wo man mit ein paar harmlosen Eingaben hingeführt wird. Ich traf auch auf Seiten, in denen Benutzer davor warnten, falsche Suchbegriffe einzugeben. Ich lasse diese Begriffe jetzt aus Sicherheitsgründen weg. Aber seien sie vorsichtig, wenn sie im Internet nach einem Schnellkochtopf suchen, dann könnten sie mit einer Bombenstimmung rechnen, wenn das SEK bei ihnen anrückt.

Ich stöberte auf YouTube nach einem Musikstück, plötzlich war er wieder da. Mein Ohrwurm! Seit Jahrzehnten kriecht er, mit Unterbrechung, in meinem Gedächtnis herum. Je mehr ich versuche, diese unnütze Kreatur wegzukriegen, desto stärker wird sie.

Es fing vor über vierzig Jahren an, als wir mit unserer kleinen Tochter im Disneyland in Florida waren. Eine der Attraktionen war eine unterirdische Bootsfahrt durch alle Kontinente, in denen animierte kleine Puppen immer das gleiche Lied in einer Endlosschleife sangen: It's a small small World. Ein nettes Kinderliedchen, das im gesamten Park ständig zu hören war: Beim Anstehen an den Attraktionen, in den Lokalen, bei der obligatorischen Parade und sogar auf der Toilette. Noch tagelang belästigte diese Melodie mein Gedächtnis. War endlich Ruhe, wurde sie bei jedem Bericht über das Disneyland wieder aktiv.

Viele Jahre später machten wir mit Freunden eine Amerikarundfahrt. Natürlich besuchten wir auch wieder das Disneyland, diesmal in Los Angeles. Da war er wieder, mein Ohrwurm! Ich wollte nicht darüber reden, aber nach ein paar Tagen, wir waren inzwischen schon in Las Vegas, sagte meine Freundin zu mir: Ich bekomme das blöde Lied aus dem Disneyland nicht mehr aus dem Kopf. Bingo! Schon wieder ein Opfer. Welcher Halunke hat in welchem Auftrag diesen Ohrwurm komponiert, der sich frech in meinem Gedächtnis breitmacht und die wichtigen Geheimnummern und Passwörter und Namen rausschmeißt?

Sind die unbewussten Lernprozesse etwa stärker als die Bewussten?

In allen der inzwischen vierzehn Disney-Parks der Welt, ist dieser Ohrwurm noch immer in einer Endlosschleife zu hören und gilt deshalb als eines der meistgespielten Lieder der Welt. Aus diesem Grund haben viele Handynutzer diesen Virus als Klingelton, den ich mir ungefragt in der Öffentlichkeit anhören muss. Das Ergebnis kennen sie jetzt.

Margot Bintig, Februar 2020