15Nov2019

Woran denken Pilze

Elena Orkina

Vor kurzem hat man mir einen Link zugeschickt mit einem Titel Woran denken die Pilze? Es stand dort, dass Pilze möglicherweise sehr kluge Geschöpfe seien und vielleicht über eine kollektive Intelligenz verfügen. Und wenn es ihnen unkomfortabel wird, können sie von ihrem Myzel lange Fäden ablassen und kilometerweit entfernt einen neuen Ort für sich finden.

Ich weiß nicht, ob es stimmt. Jedenfalls, von der schönen Straße Zwijndrechtring in der Nähe meines Hauses sind sie im letzten heißen und trockenen Sommer 2018 weggezogen. Die Straße ist mit Birken bepflanzt, und dort, auf dem schmalen Rasenstreifen habe ich früher immer schöne Pilze gefunden – Birkenpilze, Maronen, und sogar Steinpilze. Nicht nur die Pilze sind verschwunden, auch das Gras, nur das trockene Moos ist geblieben. Und in diesem Jahr sind die Pilze nicht zurückgekommen.

In diesem Sommer und Herbst waren überhaupt sehr wenige Pilze in unserem Wald, ich habe nur ein paar Maronen gefunden, und auf den Rasen wachsen nur die anspruchslosen Kremplinge, die ich nicht sammele.

Vor ein paar Tagen bin ich von der S-Bahn Poppenbüttel durch die Straße Kritenbarg, mit den schönen Villen, zum Alstertal gelaufen. Die Straße führt zu einem Berg an der Alster, und dort ist mein Stammplatz, wo im Herbst die schönsten Hallimasche wachsen. Aber an diesem Tag habe ich dort keinen einzigen Pilz gesehen. Vielleicht waren sie von hier auch wegen des Klimawandels weggezogen? Ich bin nach unten zur Alster gegangen. Und dort, in dem feuchten Tal, gleich am Wanderweg, wuchsen die Hallimasche in Mengen. Sie waren nicht besonders schön, nicht mehr jung, und nach einer Woche Regen waren manche schon verschimmelt, aber viele Hütchen waren noch ganz in Ordnung. Ich habe mich hingehockt und angefangen, sie zu sammeln. Sofort blieben viele Passanten stehen, dann komme ich mir immer vor wie auf der Bühne. Die Fragen sind immer die gleichen: Was sind denn das für Pilze? Kennen sie sich aus? Sind die Pilze essbar? Sind sie nicht giftig? Und wie unterscheiden Sie die Guten von den giftigen? Wirklich, wie? Wie ein Kleinkind einen Hund von der Katze unterscheidet? Endlich wurde meine Tüte voll, und ich ging zur S-Bahn Hoheneichen, auch nicht allzu nah. Unterwegs überlegte ich, wie oft ich in meinem Leben mit Pilzen zu tun hatte.

Das erste Mal hatte ich im Jahr 1946 richtig mit Pilzen Bekanntschaft gemacht. Ich war zwölf Jahre alt und wir mieteten für den Sommerurlaub ein Zimmer im Dorfhaus, 40 Kilometer weit von Moskau. Es war die hungrige Nachkriegszeit, und wir hatten die Möglichkeit unsere Lebensmittelkarten im nah gelegenen Sanatorium abzugeben. Dorthin gingen wir jeden Tag mit Kochgeschirr und brachten unserer Gastgeberin Mittagessen und Brot, um es mit ihr zu teilen. Sie war Witwe, hatte fünf Kinder von sechs bis 13 Jahren alt, ihr Mann war im Krieg gefallen. Sie arbeitete in der Kolchose, und wie alle Kolchosenbauern hatte sie kein Recht auf Lebensmittelkarten. Also Armut und Not. Das älteste Mädchen half auf dem Feld, sie hat auch mir beigebracht, wie man mit der Sichel Roggen erntet. Die Jungs sammelten im Wald wilde Erdbeeren und tauschten sie im Sanatorium, ein Glas für eine Brotscheibe. Und dann gingen sie im Wald Pilze sammeln, und ich mit ihnen. Sie hatten alte Eimer mit einem Strick um den Hals gehängt und liefen so schnell, dass ich kaum das Tempo mithalten konnte. Wenn jemand einen Pilz sah, trommelte er auf den Eimer. Bald waren ihre Eimer voll, und bei mir im Korb noch zum Heulen wenig. Wenn das Mädchen mitging, steckte sie oft einen schönen Pilz in meinen Korb. Von den Kindern und ihrer Mutter habe ich eine Menge über Pilze gelernt.

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Hier wachsen im Herbst die schönsten Hallimasche.

Die besten waren die Steinpilze, Rotkappen und Birkenpilze, sie eigneten sich am besten zum Trocknen für den Winter. Eichenpilze und Ziegenlippen waren auch zum Trocknen nicht schlecht. Man legte sie auf ein mit Stroh bedecktes Blech im ausgebrannten Ofen. Die Butterpilze schmeckten am besten gebraten, eigneten sich auch gut zum Einlegen. Die Täublinge – gelbe, rosa, weiße – waren auch gut zum Schmoren mit Zwiebeln und Kartoffeln, sie waren aber brüchig, und man sammelte sie, wenn andere Pilze nicht da waren. Es gab noch verschiedene Pilze, die man salzen oder mit Essig einlegen konnte, solche wie echter Reizker, Birkenreizker, Hallimasch und Milchling. Der Milchling war besonders als Nachspeise zum Wodka beliebt, er blieb knusprig den ganzen Winter über. Mir war er aber unsympathisch, und mit Milchlingen kenne ich mich nicht aus. Und niemals hatten die Kinder, auch nicht die kleinsten, einen Giftpilz im Eimer gehabt. Ich bin nachher auch allein in den Wald gegangen oder habe Mama die pilzreichen Stellen im Wald gezeigt, und besondere Freude haben mir die Rotkappen gemacht.

In Russland haben die Menschen ein ganz besonderes Verhältnis zu Pilzen. Die meisten kennen sich gut aus. Vielleicht, weil die Stadtbewohner ihre Wurzeln im Dorf hatten, wo die Pilze zum Überleben halfen. Und wenn sich das Gerücht verbreitete, dass die Pilze gekommen seien, fühlten alle die Begierde: Sofort in den Wald, Pilze sammeln! Es war ein allgemeines Hobby. Man hat damit geprahlt, wie viele Körbe oder Eimer man gesammelt hatte, aber wenn es um Steinpilze ging, hat man sie immer einzeln gezählt. Man ist noch im Dunkeln aus dem Haus, denn man strebte danach, als erster im Wald zu sein.

Oft haben die Gewerkschaften für die Belegschaft einen Bus besorgt. Der erwartete uns an einer Endstation der U-Bahn. Mit dem letzten Zug, gegen ein Uhr in der Nacht, sind wir zum Bus gekommen. Die Reise dauerte zwei bis drei Stunden. Unterwegs haben manche schon angefangen, Wodka zu trinken, die anderen schliefen. Irgendwann ist der Bus in einen Waldweg eingebogen und stehengeblieben. Schon in der Dämmerung sind wir mit unseren Körben und Eimern ausgestiegen und haben uns auf die Jagd gemacht. Jede Stunde gab der Fahrer ein Signal zu unserer Orientierung, denn Handys gab es noch keine. Abflug war um zehn Uhr verabredet. Diejenigen, welche früher mit vollen Körben zum Bus zurückkamen, legten ein Lagerfeuer an und kümmerten sich um das Frühstück, natürlich mit Wein und Wodka. Alle waren glücklich, obwohl es noch ein langer Weg nach Hause war und uns noch viel Arbeit mit der Bearbeitung der Beute bevorstand.

Mein Chef war ein begeisterter Pilzsammler, noch im Frühling sammelte er Morcheln und Bischofsmützen, später auch Dolden. Nur bei wilden Champignons musste man Vorsicht walten lassen, man konnte sie mit den sehr giftigen Knollenblätterpilzen verwechseln. Maronen waren uns unbekannt, und Pfifferlinge waren in unseren Wäldern sehr selten.

In der Nähe unserer Datscha im Birkenwald wuchsen Hallimasche in Mengen. Mutter marinierte sie mit Essig, Knoblauch, Dill und den Blättern der Johannisbeere. Die kleinsten Pilze hat sie in Milchflaschen eingelegt. Mit so einer Flasche ist sie zu Besuch gegangen, und das war das schönste Geschenk für die Gastgeber. Wenn die eingelegten Pilze auf die Teller kamen, haben die Genießer sie immer Pilzchen genannt.

Ich erinnere mich an ein wunderschönes Wochenende im September 1962, ein richtiger Altweibersommer. Wir hatten uns zum Wandern verabredet. Am späten Nachmittag sind wir an der Eisenbahnhaltestelle angekommen, ab der wir zu Fuß weitergehen wollten. Unser Ziel war es, zur nächsten, ungefähr 40 Kilometer entfernten Haltestelle zu laufen. Irgendwo in der Mitte unseres Weges wollten wir zelten und übernachten. Nach einer Stunde kamen wir in eine Gegend, wo es Eichenhaine gab. Und da sah ich den ersten Steinpilz und dann noch viele weitere. Meine Begleiter, beide Physiker – Theoretiker, hatten von Pilzen keine Ahnung, sie konnten meine Begeisterung nicht verstehen, sagten, dass es bald dunkel wird. Doch gaben sie mir unseren Kochtopf. Ich fing an, die Pilze zu sammeln, musste aber unser Tempo halten. Bald war der Topf voll, und die Pilze wurden immer schöner. Ich musste die weniger Schönen blutenden Herzens herauswerfen. Endlich wurde es dunkel, wir haben unseren Bach gefunden und Lagerfeuer gemacht. Dann habe ich angefangen, die Pilze zu schmoren. Willst du uns vergiften?, fragten die Theoretiker. Aber es hat so fein gerochen, dass sie sich über die Pilze hermachten und sogar den Topf ausleckten.

Am Morgen wurden wir von der Sonne geweckt, es war Bodenfrost, auf dem Gras lag Reif, der in der Sonne blitzte. Die ganze kleine Lichtung war mit Steinpilzen bedeckt, im Dunklen haben wir es nicht gesehen. Wir haben gefrühstückt, mussten weiter gehen, und die ganze Pracht hinter uns lassen, denn der Weg war noch lang, und die Rucksäcke schwer.

Eine Völkerweisheit sagt, dass, wenn es viele Pilze gibt – es auch bald zum Krieg kommt. In einem Monat kam es damals zur Kubakrise und der Dritte Weltkrieg war sehr nah.

Wenn die Pilze wirklich so intelligent sind und uns beobachten, sollen sie uns verzeihen, dass wir sie so gerne essen – in Suppe, gebraten, geschmort mit Zwiebeln und Schmand, und eingelegt, als Nachspeise zum Alkohol. Prost!

Elena Orkina, im November 2019