29Jan2023

Ich habe mal gelernt …

Margot Bintig

Ich habe weder Betriebswirtschaft noch Volkswirtschaft studiert, doch vor über sechzig Jahren habe ich den Beruf KaufmannDie Berufsbezeichnung für Frauen lautet heute Kauffrau gelernt. Damals habe ich sehr viel mehr gelernt als Buchhaltung und Soll und Haben. Doch Schreibmaschine und Steno gehörten nicht zum Ausbildungsplan. Heute heißt es Kauffrau, aber das ist das Geringste, was sich inzwischen geändert hat. Zwar ist heute immer noch zwei mal zwei vier, und ob man im Hundert oder vom Hundert rechnet, es sind noch immer verschiedene Ergebnisse, aber sonst ist heute vieles anders als früher.

🔹 Ich habe mal gelernt, dass das umlaufende Geld einen Gegenwert hat, zum Teil in Gold oder im Verhältnis zu den Gütern und Dienstleistungen stehen muss, die mit dem Geld erworben werden können. Ich habe es auch lange geglaubt.

🔸 Tatsächlich ist es aber heute so, dass jedes Land so viel Geld drucken darf, wie es will. Der Euro und auch der Dollar sind durch nichts gedeckt und sind nur ein Zahlungsversprechen, das auf dem Vertrauen in die Volkswirtschaft basiert. Man muss nur aufpassen, dass es nicht zur Inflation kommt. In Europa achtet hoffentlich die EZB, die Europäische Zentralbank, darauf.

🔹 Ich habe mal gelernt, wie das Pareto PrinzipDas Paretoprinzip, benannt nach Vilfredo Pareto (1848–1923), auch Pareto-Effekt oder 80-zu-20-Regel genannt, besagt, dass 80 % der Ergebnisse mit 20 % des Gesamtaufwandes erreicht werden. Die verbleibenden 20 % der Ergebnisse erfordern mit 80 % des Gesamtaufwandes die meiste Arbeit. Siehe Wikipedia.org funktioniert: Das bedeutet für den kaufmännischen Bereich, dass 80 Prozent des Jahresumsatzes von 20 Prozent der Stammkunden erwirtschaftet wird. Auch wenn man dieses Prinzip nicht zu genau auslegen darf, war es der Grund, weshalb Kundenbindung und Kundenzufriedenheit oberste Priorität hatten.

🔸 Tatsächlich ist es heute so, dass Stammkunden kaum noch beachtet, aber Neukunden ständig umworben werden und Rabatte erhalten, während Altkunden höhere Preise zahlen. Ich habe selbst bei Stromanbietern von diesem Geschäftsgebaren profitiert, in dem ich jährlich den Anbieter wechselte und den Neukundenbonus mitnahm. Ich habe dadurch einige hundert Euro gespart, wohl wissend, dass dies nur einige Zeit gutgehen kann.

🔹 Ich habe mal gelernt, dass man den Standort eines Betriebes vor der Eröffnung sehr genau untersuchen sollte. Zum Beispiel, dass man im Einzelhandel kein Textilgeschäft in einer Straße eröffnen sollte, in der schon ein solches Geschäft vorhanden ist. In der Wirtschaft und Industrie nur einen Standort wählen soll, an dem man genügend Mitarbeiter rekrutieren kann und die Infrastruktur stimmt.

🔸 Tatsächlich ist es heute so, dass in den Innenstädten die großen Markenanbieter direkt neben dem Einzelhändler, falls es noch welche gibt, ihre Filialen eröffnen. Einige Nobelmarken sind hier vertreten, die kaum Umsatz machen, sondern nur Präsenz zeigen wollen. Das Ergebnis ist, dass die Innenstädte der meisten Städte gleich aussehen. Doch den Firmen ist es egal, denn die Verluste, die hier entstehen, können mit der Steuer der gewinnbringenden Unternehmenszweige verrechnet werden.

Der Standort der Wirtschaft und Industrie hängt heute davon ab, wo die niedrigsten Löhne gezahlt werden und welche finanziellen Zusagen es von den Gemeinden gibt. Hier hat meistens das Ausland die Nase vorn.

🔹 Ich habe mal gelernt, dass Mitarbeiterbindung sehr wichtig ist. Langjähriges Personal hat viel Erfahrung und fühlt sich dem Unternehmen verbunden und deshalb ist auch mehr Verlass darauf. Es gab Firmen, für die mehrere Generationen aus einer Familie gearbeitet haben. Sie waren stolz darauf, für ihr Unternehmen zu arbeiten und fühlten sich fast wie in einer Familie. Ich habe selbst mal ein fünfzig-jähriges Mitarbeiterjubiläum mitfeiern dürfen und kenne eine Familie, in der drei Generationen in einer alten Kaufhauskette nicht nur arbeitete, sondern auch dafür lebten.

🔸 Tatsächlich ist es heute so, dass langjährige Mitarbeiter zu teuer sind und durch jüngeres und billigeres Personal ersetzt werden. Die Firmen bezahlen sehr teure Unternehmensberater, die aufzeigen, wie ein Unternehmen noch mehr Gewinn erwirtschaften kann. Meistens wird dann beim größten Kostenfaktor gekürzt: den Löhnen und Gehältern.

Ich erinnere mich noch an einen großen Versicherungskonzern, der Anfang des 21. Jahrhunderts freudig einen hohen Milliardengewinn verkündete. Die zum Teil langjährigen Mitarbeiter feierten mit der Geschäftsleitung den gemeinsamen Erfolg. Kurz darauf las ich in der Zeitung, dass derselbe Konzern 10.000 Mitarbeiter entlassen will.

Nachdem es die Wirtschaft jahrelang entgegen aller Versprechungen versäumt hat, Nachwuchs auszubilden, hat eine mir bekannte Firma wieder Auszubildende eingestellt. Nach der Ausbildung, wurden diese jungen Menschen alle entlassen und von einer firmeneigenen Leiharbeit-GmbH wieder eingestellt, um sie dann an die Ausbildungsfirma auszuleihen. Natürlich zu einem geringeren Lohn als die Stammmitarbeiter. So kann man Kosten sparen!

Von einer Mitarbeiterbindung kann so nicht mehr die Rede sein. Viele Unternehmen haben inzwischen Vergünstigungen wie Betriebsrenten, Firmenwohnungen und Hilfsfonds für in Not geratene Mitarbeiter eingestellt. Ich selbst bekam das zu spüren. Bei meinem letzten Arbeitgeber, bei dem ich fast fünfundzwanzig Jahre beschäftigt war, habe ich den Anspruch auf Betriebsrente, die nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit gewährt wird, verpasst. Nach neun Beschäftigungsjahren wurde die Betriebsrente für Neuzugänge geschlossen. Ich bin ein Jahr zu spät angefangen.

🔹 Ich habe mal gelernt, dass ein Kaufmann sich an die Tugenden eines Ehrbaren Kaufmanns halten sollte. Das heißt unter anderem, sich an Gesetze, Vorschriften und Vereinbarungen zu halten und allen Menschen respektvoll zu begegnen. Ein Handschlag gilt wie ein schriftlicher Vertrag.

🔸 Tatsächlich ist es immer noch so, dass ein Handschlag gilt, aber es ist kaum vor Gericht durchzusetzen. Die anderen Tugenden werden sehr unterschiedlich ausgelegt. Ich bin jedenfalls froh, dass ich mich während meiner Arbeit im Personalbereich immer an Gesetze und Tarife halten durfte. Ich schreibe durfte, da mir von Kollegen, mit denen ich in den letzten Jahren meiner Berufstätigkeit bei Seminaren zusammenkam, besonders aus dem Leiharbeiterbereich, erzählt wurde, dass ihnen verboten wurde, die Mitarbeiter über ihre Rechte aufzuklären. Es werden hier nicht immer die gesetzlichen Leistungen gezahlt und erbracht, wie zum Beispiel Urlaubsanspruch, Höchstarbeitszeit und Lohnfortzahlung. Über diese und noch schlimmere Arbeitsverhältnisse, wie zum Beispiel bei Subunternehmern kann man auch jetzt ständig in der Presse lesen. Ich glaube, dass ich das nicht aktiv mitgemacht hätte, denn es gibt immer eine Alternative. Man muss sich auch am nächsten Tag noch im Spiegel ansehen können. Es wird vereinzelt gegen die Verstöße geklagt, aber eine Nachzahlung erhält leider nur der jeweilige Kläger, wer nicht klagt, geht leer aus.

🔹 Ich habe auch mal gelernt, wenn es den Unternehmen gut geht, geht es auch den Mitarbeitern gut.

🔸 Tatsächlich habe ich heute daran große Zweifel.

Margot Bintig, 29. Januar 2023