14Okt2020

Sommerzeit, Winterzeit, Normalzeit
oder:
Ein Energiespar-Märchen

Hartmut Kennhöfer

Gemeint ist natürlich die Umstellung der Uhren im Frühjahr und im Herbst. Eine gewisse Erleichterung verschafft die moderne Zeitmesstechnik dabei, ich besitze mittlerweile ein paar Funkuhren, die das Drehen der Zeiger signalgesteuert selbst übernehmen. Alle anderen Uhrzeiger drehe ich lustlos von Hand im Frühjahr nach vorn und im Herbst wieder zurück. Besonderen Spaß habe ich dabei bei meinem Radiowecker im Schlafzimmer mit der roten Digitalanzeige. Die Symbole zum Verstellen von Stunden, Minuten und Weckzeit sind nicht eindeutig, so vertue ich mich regelmäßig dabei und verstelle die Uhrzeit völlig. Wenn ich dann endlich die Symbole richtig zugeordnet habe und den Wecker auf die richtige Zeit einstellen konnte, habe ich es bis zum Herbst wieder vergessen und probiere dann erneut, das widerspenstige Teil die richtige Zeit anzeigen zu lassen.

Wie kam es eigentlich dazu, dass wir uns zweimal pro Jahr diesem Sport hingeben müssen? Schuld daran ist die sogenannte Ölkrise von 1973; nicht allein, aber doch ausschlaggebend. Ich erinnere mich deutlich an die damaligen FahrverboteLesen Sie auch:
Autofreier Sonntag
über die Fahrverbote 1973
, die streng von der Polizei überwacht und bei Nichtbefolgung mit Bußgeldern geahndet wurden. Ganz ähnlich wie heute, doch momentan geht es um die Einhaltung von Hygieneregeln. 1973 hatten die erdölexportierenden Länder den Industriestaaten den Ölhahn zugedreht und die Exporte stark verteuert. In der Folge wurden Benzin und Diesel knapp. Vier autofreie Sonntage mit Fahrverboten wurden den Bürgern verordnet. Heizöl und Treibstoffe verteuerten sich enorm.

Die Einführung einer Sommerzeit wurde in Deutschland 1978 beschlossen, um in Europa wieder ein einheitliches Zeitsystem zu haben, nachdem sie in Frankreich 1976 bereits verbindlich eingeführt war. Die Umstellung erfolgte aber erst im Frühjahr 1980. Die Regierungen erhofften sich eine Verringerung des Energieverbrauchs, insbesondere bei der Beleuchtung. Sie folgten damit der Idee des Engländers William Willett, der 1907 in seinem Pamphlet »The Waste of Daylight«, behauptete, dass Großbritannien jährlich 2,5 Millionen Pfund an Energiekosten durch die Einführung einer Zeitverschiebung einsparen könnte. Sein Vorschlag setzte sich zwar nicht durch, was vielleicht an der zu komplizierten Umsetzung lag: Willett wollte die Uhren im Sommer um bis zu 80 Minuten vorstellen, und zwar an vier Sonntagen im April um 20 Minuten. In der gleichen Weise sollten die Uhren im September wieder zurückgestellt werden. Dass die Überlegungen zur Zeitumstellung nicht auf Grundlage wissenschaftlicher Studien geführt wurden, wird durch die englische Bezeichnung der Sommerzeit deutlich: »Daylight Saving Time« – zusätzliche Stunden mit natürlichem Tageslicht zu gewinnen, in der Hoffnung, dadurch Energie und Ressourcen einsparen zu können.

Diese Hoffnung bewegte auch das Kaiserreich dazu, mitten im Ersten Weltkrieg, am 30. April 1916, die Sommerzeit einzuführen. Der deutsche Kaiser versprach sich dabei zur Unterstützung der energieintensiven Materialschlachten des Krieges Brenn- und Beleuchtungsstoffe durch möglichste Ausnutzung des Sonnenlichts zu sparen. Um keine strategischen Nachteile zu erleiden, zogen Frankreich und Großbritannien nach und führten ebenfalls die Sommerzeit ein. Nach Kriegsende schaffte die Weimarer Republik 1919, die als Kriegsmaßnahme eingeführte Sommerzeit wieder ab und kehrte zur Normalzeit zurück, die durch den Sonnenstand bestimmt wird. Großbritannien behielt die Zeitumstellung bei, in Frankreich wurde sie 1922 nach Protesten der Bauern abgeschafft. Allerdings ein Jahr später wieder eingeführt.

Ob durch die Zeitumstellung tatsächlich Energie und Rohstoffe eingespart wurden, konnte nach dem Krieg nicht eindeutig geklärt werden, zu unterschiedlich waren die Ursachen in Verbrauch und Bedarf gewesen. Wie effektiv, energie- und ressourcenschonend, von den Millionen Toten einmal abgesehen, wäre es wohl gewesen, diesen Krieg gar nicht erst zu führen? Doch Ideen leben in den Köpfen weiter, auch wenn ihr Sinn nie erforscht wurde. Die Hoffnungen, die diese Ideen ursprünglich angetrieben haben, werden mit der Zeit langsam zu Tatsachen und niemand überprüft sie auf ihren Gehalt. So entstehen die Legenden, die Jahrhunderte überdauern und von nachfolgenden Generationen nachgeplappert werden, ohne je auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft zu werden.

Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs führte der NS-Staat 1940 die Sommerzeit wieder ein, in der Hoffnung, Energie und Ressourcen sparen zu können. Die Zeit wurde in den besetzten Gebieten mit der Ortszeit Berlin synchronisiert und galt von April 1940 durchgehend bis November 1942. Nach Kriegsende 1945 behielten die Besatzungsmächte die Zeitumstellung bei. In der britischen Besatzungszone wurde zeitweise sogar eine Hochsommerzeit – »British Double Summer Time« eingeführt, die zwei Stunden von der Normalzeit abwich und bis 1947 beibehalten wurde. Da diese Zeitregelung nur als Krisenregelung, nicht als Dauerregel galt, wurde sie 1950 in Deutschland abgeschafft. Andere Länder folgten, bis sie 1976 ihr Comeback hatte.

Neueren wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge hat die Zeitumstellung in Summe nur Nachteile. Das Umweltbundesamt stellte 2009 für Deutschland in einer Mitteilung fest: Durch das Vor- und Zurückstellen der Uhren sparen wir keine Energie: Zwar knipsen die Bürgerinnen und Bürger im Sommer abends weniger häufig das Licht an, allerdings heizen sie im Frühjahr und im Herbst in den Morgenstunden auch mehr - das hebt sich gegenseitig auf. Folgerichtig beschloss die EU-Kommission im März 2009 ein Verbot der stromfressenden Glühlampen mit dem Ziel, Energie einzusparen. Ersatz sollten die Energiesparlampen und zunehmend LED-Lampen sein, mit denen bis zu 90 Prozent Energie eingespart werden konnte. Gleichzeitig wurde die Digitalisierung vorangetrieben, sodass der Energiespareffekt bei der Beleuchtung sogleich verpufft. Dazu kommen Effekte, die erst durch die Digitalisierung möglich werden. Als besonders negatives Beispiel fällt mir dazu die Kryptowährung Bitcoin ein. Ein digitales Zahlungsmittel, das auf kryptografischen Signaturen und verketteten digitalen Blöcken (Blockchains) basiert. Um ein Guthaben an Bitcoins zu erhalten, müssen komplizierte Algorithmen berechnet werden, die so viel elektrischen Strom fressen wie ein Großrechenzentrum, das von einem Kernkraftwerk versorgt wird.

Auch sogenannte Rebound-Effekte wirken einer effizienten Energieeinsparung entgegen. Besonders in der dunklen Jahreszeit werden heute vermehrt LED-Lichterketten zum Schmuck und zur Beleuchtung der Häuser gekauft. Da man mit LEDs bis zu 90 Prozent Energie einsparen kann, leuchten die Ketten Tag und Nacht; einen Ausschalter sucht man vergebens.

Doch ich schweife ab und komme zum Thema zurück: Als 1980 die Sommerzeit in Deutschland eingeführt wurde, stöhnte meine Schwägerin darüber, dass sie jetzt noch eine Stunde früher aufstehen müsse. Sie hatte einen Landwirt geheiratet und gemeinsam führten sie einen Milchbetrieb. Die Kühe waren nicht von den Vorteilen einer Zeitumstellung zu überzeugen. Ihr Biorhythmus richtete sich nach dem Sonnenstand, dumme Tiere eben. Der intelligente Mensch dagegen nimmt es gern in Kauf, dass er wieder im Dunkeln aufstehen muss, weil er im Frühjahr an der Uhr gedreht hat. Dafür nimmt er auch gern einen wochenlangen Jetlag in kauf, bis sich sein Biorhythmus der Uhr angepasst hat. Im Herbst ist es nur halb so schlimm, denn da wir sowieso wieder in die dunkle Jahreszeit kommen, schlafen wir auch gern eine Stunde länger.

Nun hat die Europäische Union 2019 aufgrund der vielen Klagen eine Internetbefragung zur Abschaffung der halbjährlichen Zeitumstellung auf den Weg gebracht. Dabei erhielt die EU-Kommission 4,6 Millionen Antworten, drei Millionen davon aus Deutschland. Die Fragestellung war dabei nicht nur, ob die Zeitumstellung abgeschafft werden sollte, sondern auch, welche Zeit dauerhaft bleiben sollte. Meiner Meinung nach haben hier die Macher dieser Umfrage einen schweren Fehler begangen, indem sie fragten: Welche Zeit soll dauerhaft bleiben, Sommer- oder Winterzeit. Klar, dass die Menschen den Sommer lieber haben als den Winter und entschieden sich folgerichtig mehrheitlich für die dauerhafte Beibehaltung der Sommerzeit. Die Frage aber hätte weniger manipulativ lauten müssen: Welche Zeit soll dauerhaft bleiben, die Normalzeit, auch Mitteleuropäische Zeit, oder abgekürzt MEZ, welche dem Sonnenstand entspricht, oder die Mitteleuropäische Sommerzeit, abgekürzt MESZ, die dauerhaft um eine Stunde vorgestellte Zeit. Ich glaube, die Abstimmung wäre anders ausgefallen, und zwar zugunsten der Normalzeit, die erst nach der Einführung der Zeitumstellung 1980 den negativ besetzten Namen Winterzeit erhielt.

Ein schönes Beispiel dafür, dass wir oft nicht genau wissen, wovon wir überhaupt reden!

Hartmut Kennhöfer, 8. Juli 2020


Spektrum der Wissenschaft
Wikipedia.de
Yvonne Zimber: Sommerzeiten und Hochsommerzeiten in Deutschland bis 1979.
Verordnung über die Einführung der Sommerzeit vom 23. Januar 1940, RGBl., S. 232–233.
Verordnung des Bundesministeriums für Inneres im Einvernehmen mit den beteiligten Bundesministerien vom 6. September 1946 über die Wiedereinführung der Normalzeit im Jahre 1946.
Forscher warnen vor fatalen Folgen durch ewige Sommerzeit. welt.de, 12. September 2018
Einheiten- und Zeitgesetz der Bundesrepublik Deutschland, § 4.