25Dez2020

Jahresrückblick 2020

… wie sich die Bilder gleichen

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Weihnachten - Zeit, um zur Ruhe zu kommen und Bilanz zu ziehen. Ein aufregendes und spannendes Jahr liegt hinter uns. Die Menschen dieser Welt haben erleben dürfen, wie es sich wohl angefühlt haben mag, als in Europa zwischen 1346 und 1353 der Schwarze Tod, die Pest wütete und geschätzte 25 Millionen Todesopfer – ein Drittel der damaligen Bevölkerung – forderte.

Der Erreger der Pest, das Bakterium Yersinia pestis, verbreitete sich mit den Rattenflöhen über die Seidenstraße aus Zentralasien bis nach Europa. Als die ersten Fälle der Beulenpest in Venedig auftraten, verhängten die Venezianer über alle Waren aus Zentralasien einen vierzigtägigen Lockdown, Quarantäne hieß das damals, vom lateinischen Zahlwort quadrāgintā für vierzig.

Giovanni Boccaccio ist vermutlich der wichtigste Zeitzeuge der Pandemie von 1347 bis 1353. Er hat das Erlebte literarisch in seiner Novellensammlung Decamerone verarbeitet. Über die verheerende Auswirkung des Ausbruchs in Florenz schrieb er:

So konnte, wer – zumal am Morgen – durch die Stadt gegangen wäre, unzählige Leichen liegen sehen. Dann ließen sie Bahren kommen oder legten, wenn es an diesen fehlte, ihre Toten auf ein bloßes Brett. Auch geschah es, dass auf einer Bahre zwei oder drei davongetragen wurden, und nicht einmal, sondern viele Male hätte man zählen können, wo dieselbe Bahre die Leichen des Mannes und der Frau oder zweier und dreier Brüder und des Vaters und seines Kindes trug.

Auch hat er in seinem Werk eindrucksvoll geschildert, wie nach dem Ausbruch der Pandemie viele Einwohner von Florenz ihren sozialen Verpflichtungen nicht mehr nachkamen:

Wir wollen darüber schweigen, dass ein Bürger den anderen mied, dass fast kein Nachbar für den anderen sorgte und sich selbst Verwandte gar nicht oder nur selten und dann nur von weitem sahen. Die fürchterliche Heimsuchung hatte eine solche Verwirrung in den Herzen der Männer und Frauen gestiftet, dass ein Bruder den anderen, der Onkel den Neffen, die Schwester den Bruder und oft die Frau den Ehemann verließ; ja, was noch merkwürdiger und schier unglaublich scheint: Vater und Mutter scheuten sich, nach ihren Kindern zu sehen und sie zu pflegen – als ob sie nicht die ihren wären […] Viele starben, die, wenn man sich um sie gekümmert hätte, wohl wieder genesen wären. Aber wegen des Fehlens an ordentlicher, für den Kranken nötiger Pflege und wegen der Macht der Pest war die Zahl derer, die Tag und Nacht starben, so groß, dass es Schaudern erregte, davon zu hören, geschweige denn es mitzuerleben.

Die kirchliche und weltliche Macht verlor angesichts der Hilflosigkeit, mit der sie der Pandemie begegnete, rapide an Autorität. Der Dichter Boccaccio vermerkte in seinem Decamerone:

In solchem Jammer und in solcher Betrübnis der Stadt war auch das ehrwürdige Ansehen der göttlichen und menschlichen Gesetze fast gesunken und zerstört; denn ihre Diener und Vollstrecker waren gleich den übrigen Einwohnern alle krank oder tot oder hatten so wenig Gehilfen behalten, dass sie keine Amtshandlungen mehr vornehmen konnten. Darum konnte sich jeder erlauben, was er immer wollte.

Die Verursacher des Schwarzen Tod waren schnell gefunden. In der Zeit bis 1349 gab es bereits Spannungen zwischen Juden und Christen, es gab Vorwürfe wie Hostienfrevel und Ritualmordlegenden, außerdem waren die Juden als Wucherer nach der christlichen Lehre verhasst. So kam der Vorwurf der Brunnenvergiftung nun verstärkt auf. Den Juden wurde vorgeworfen, so die Pest ausgelöst zu haben, außerdem kam die Idee auf, dass Gott die Christen durch die Pest bestraft, weil sie Juden in ihren Städten akzeptieren.

Ähnliche Vorwürfe gegen Juden wurden in den 1930er Jahren erhoben, als die wirtschaftliche Lage in Deutschland nach dem angezetteltem Ersten Weltkrieg katastrophal war und es weder Arbeit noch Brot gab. Die Juden kamen den neuen Machthabern, den Nazis, gerade recht, um sie zu Sündenböcken für die verfehlte Politik des Kaiserreichs zu machen. Mit der sogenannten Reichskristallnacht 1938 kam es verstärkt zu Pogromen gegen Juden, die in den Holocaust, der totalen Vernichtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe mündeten. Es waren die Nachbarn, die Freunde und sogar die Familienmitglieder, die ins Gas und in den Flammen geschickt wurden, um den Traum eines großdeutschen Reichs voller Herrenmenschen träumen zu können.

Haben wir daraus gelernt? Sind wir Menschen überhaupt in der Lage, aus der Geschichte etwas zu lernen? Sehen wir nicht die Ähnlichkeiten heute bei den Identitären, den Reichsbürgern, den Maskenverweigerern, Rechtsradikalen, Impfgegnern und Querköpfen? Wie gehen wir miteinander um? Sind wir noch ein solidarisches Volk?

Diese Fragen haben sich damals gestellt, als die Erinnerungswerkstatt vor 16 Jahren gegründet wurde, heute sind sie dringender geworden. Wir wollten möglichst viele Zeitzeugenberichte sammeln, um sie der Nachwelt zu erhalten. Damit die vielen Berichte auch von denen verstanden werden können, welche die Nazizeit nicht erlebten, stehen sie im Kontext zur Zeittafel der Machtergreifung 1933. Innerhalb eines einzigen Jahres wurden alle Errungenschaften der Weimarer Republik ausgelöscht, die Demokratie beseitigt, alle Verbände gleichgeschaltet und die Gewerkschaften aufgelöst. In den folgenden Jahren starben Millionen von Menschen im Zweiten Weltkrieg. Zeitzeugenberichte, die wir in unserem Buch »Kriegskinder«Kriegskinder - BuchDas Buch »Kriegskinder«, mit vielen authentischen Zeitzeugenberichten können Sie im Buchhandel, oder auch bei uns bestellen:
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zusammengetragen haben, belegen das unendliche Leiden, das zwölf Jahre tausendjähriges Reich über die Bevölkerung gebracht hat. Und die Bevölkerung hat 1933 die NSDAP selbst gewählt! Vor allem im Osten Deutschlands bekamen die Nationalsozialisten mehr als 55 Prozent der Stimmen. Wie sich die Bilder mit den heutigen gleichen, in Sachsen bekam die AfD Höckes 2019 bei der Landtagswahl 17,8 Prozent der Stimmen!

Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, heißt es, er kann weitgehend selbst bestimmen, wie er mit seinen Mitmenschen zusammenleben will. Hätte ich drei Wünsche frei für das kommende Jahr, ich würde mir wünschen, dass wir alle bereit wären, mehr Verantwortung für unsere Mitmenschen zu übernehmen, dass wir uns solidarischer und gerechter verhalten und einander besser zuhören. Ein Bemühen, den anderen besser zu verstehen, baut Hass ab und fördert das Verständnis füreinander. In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern der Erinnerungswerkstatt einen Guten Rutsch ins Neue Jahr 2021. Bleiben Sie geduldig, optimistisch und gesund.

Übrigens hat der traditionelle Silvester-Gruß Guten Rutsch! nichts mit rutschen zu tun. Der viel beschworene Rutsch leitet sich vom hebräischen Wort für Neujahr ab: Rosch ha-Schana (Anfang des Jahres). Es handelt sich um eines der vielen Wörter, die aus dem Jiddischen ins Deutsche eingeflossen sind. Guter Rutsch heißt also wörtlich: Guter Anfang! Hartmut Kennhöfer, 25. Dezember 2020