25Mai2020

Überdruss

Margot Bintig

Definition im Duden: (Widerwille, Abneigung gegen etwas, womit jemand [ungewollt] sehr lange eingehend befasst war)

Ja, das ist genau das richtige Wort. Ich habe einen Corona-Überdruss. Leider kann ich das Virus deshalb nicht wegzaubern, aber ich versuche jetzt, es nicht an mich herankommen zu lassen. Nicht nur physisch sondern auch psychisch. Es ist sicherlich nicht leicht, denn man hört und liest in den Medien nichts anderes. Doch ich versuche Nachrichten und Talkshows zu vermeiden. Ein Politiker vertritt eine andere Meinung als der andere, um sich für die anstehenden Wahlen zu positionieren. Virologen werden zwar nicht gewählt, präsentieren aber unabhängig voneinander verschiedene Ergebnisse und hoffen auf eine große Reputation. Dann bekräftigen sie, wie einig sie sich doch sind. Wem soll man glauben? Ich bin zu alt, um noch ein Virologie-Studium zu beginnen, doch mit dem Glauben habe ich es nicht so.

Im Nachhinein wissen es alle besser. Doch wann wird das sein? Bis dahin versuche ich, wieder wie früher als Kind, mich mit Büchern aus der Gegenwart hinwegzuträumen (siehe das Kino, mein Bruder und ich). Diesmal nicht mit Zeitzeugenberichten oder Krimis, sondern ich versuche, die Bibliothek der 100 besten Bücher als gelesen abzuhaken.

Zurzeit lese ich Der Stechlin von Theodor Fontane. Eigentlich langweilig, denn es geschieht nichts, wie der Schriftsteller selbst sagte, als dass zwei Junge heiraten und ein Alter stirbt. Es sind überwiegend Gespräche mit leichter Ironie über das Zeitgeschehen, und zum Schluss gibt es ungefähr 30 Seiten Erläuterungen, die ich im Gegensatz zu früher alle lese. Ich komme kaum voran, denn ich bleibe oft an Sätzen wie diesen hängen: Da sagt ein alter Adliger, der mit der aufkeimenden Sozialdemokratie eigentlich auf Kriegsfuß stand: Ich wollte, jeder kriegte lieber einen halben Morgen Land von Staats wegen und kaufte sich zu Ostern ein Ferkelchen und zu Martini schlachten sie ein Schwein und hätten den Winter über zwei Speckseiten, jeden Sonntag eine ordentliche Scheibe, und alltags Kartoffeln und Grieben.

Die meisten Menschen der damaligen Zeit (um 1890) konnten von solchem Luxus nur träumen. Ich muss unwillkürlich an den jetzigen Skandal in den Fleischfabriken und Schlachthöfen denken. Das Corona-Virus, mit dem sich hier viele Arbeiter ansteckten, brachte zutage, was wir eigentlich schon alle wussten und nicht wissen wollten. Nicht nur die Schlachttiere werden nicht wie Lebewesen behandelt, sondern auch die Arbeiter werden menschenunwürdig und wie Sklaven gehalten. Die Gesetze machen es möglich. Die Ausgestaltung wird nicht effektiv überprüft.

Angeblich verlangen wir Verbraucher es so. Mehr, mehr, billig, billig – bis zum Überdruss.
Aber was macht eine Hartz-IV-Familie, wenn Fleisch billiger ist als Gemüse?

Auszug aus den EDEKA Angeboten vom 25.5. – 30.5.2020:
Frischer Schweinenacken 3,99 Euro pro Kg (mit Tierwohl-Label)
Bio Paprika, je Stück ca. 200g 1,69 Euro pro Stück (ca. 8,50 Euro pro kg)

Pfui Teufel, weg von der Gegenwart, wieder zurück zu meinem Buch. Die ausführliche Landschaftsbeschreibung um den Stechlinsee in Brandenburg hat zwar wenig mit der Großstadt meiner Kindheit zu tun, aber es kamen trotzdem immer wieder Kindheitserinnerungen hoch. Wie zum Beispiel, als ich im Sommer mit meinen Eltern "ins Grüne" fuhr. Vater, Mutter und ich fuhren mit dem Fahrrad. An der Lenkstange des Fahrrades meiner Mutter hing ein Körbchen, in dem mein kleiner Bruder saß. Ich hatte ein geliehenes Erwachsenenfahrrad, auf dessen Sattel ich kaum sitzen konnte, deshalb bewegte ich das Rad überwiegend im Stehen. Es war nicht weit, denn am Stadtrand war schon das Grüne, eine riesengroße nicht zu überblickende Wiese. Das Gras wurde hier nur einmal im Jahr gemäht und es wurde sicherlich auch nicht gedüngt. Hier wuchsen Wiesenblumen in allen Farben. Ich habe nie wieder so eine Wiese gesehen. Heute stehen hier Industrieanlagen. Wir gingen etwas in das Grüne hinein, bis wir von außen nicht mehr zu sehen waren, legten unsere Decken aus und machten Picknick. Kartoffelsalat aus Schraubgläsern, gekochte Eier und Frikadellen in Brotdosen und Limonade in Wasserflaschen. Nach dem Essen vertiefte ich mich in mein unvermeidliches Buch und hörte nur noch das Brummen und Summen der unterschiedlichen Insekten.

Seltsam, heute wo es fast keine Insekten mehr gibt, ist die ganze Wohnung mit Insektenschutztüren und -fenstern ausgestattet. Früher hat man an so etwas nicht gedacht. Früher brummte und summte es im Sommer auch in der Wohnung.

Als wir später aufbrachen, packten wir alle unsere Sachen wieder ein, es gab keinen Abfall und das Gras stellte sich nach einiger Zeit wieder auf. Heute werden auf den Grillwiesen viele Abfallbehälter aufgestellt, trotzdem sieht man hier massenweise Plastik herumfliegen. Plastikteller, Plastikbecher, Plastikverpackungen, Plastikflaschen und, und, und – bis zum Überdruss.

Das muss wirklich nicht sein, oder? Doch mir geht es auch so: Wenn ich volle Einkaufstaschen nach Hause schleppe, wandert ungefähr die Hälfte als Verpackung wieder in den Müll. Ja, man kann darauf achten, dass man zu weniger Verpackungsmüll greift, aber ich achte doch schon auf so vieles: Nur mit Einkaufszettel und vollem Magen einkaufen, Lupe mitnehmen für das Kleingedruckte, Füllmenge auf Liter und Kilo umrechnen, um Preise vergleichen zu können, Haltbarkeitsdatum, Inhaltsstoffe wie Kohlehydrate, Fett und so weiter, Bio-Label, Tierwohl-Label, Herkunftsland, Fairtrade und, und und – bis zum Überdruss. Muss ich jetzt neben Virologie auch noch Lebensmittel- und Verbraucherrecht studieren? Diesen ganzen Labels glaube ich nicht, und sie wissen ja, wie ich es mit dem Glauben halte. Aber ich schweife schon wieder ab, also zurück zu meinem Buch. Wenn ich in diesem Tempo weiterlese, fallen mir noch tausendundeine Geschichten ein. Vielleicht belästige ich Sie demnächst damit.

Bleiben Sie bis dahin physisch und psychisch gesund.

Margot Bintig, 25. Mai 2020