10Mar2023

Geschichte vom Fallen

Pia Wolters

Der Mensch ist ein fallendes Wesen. Vom Kleinkind bis zum Greis ist sein Leben von Stürzen begleitet. Der aufrechte Gang muss gelernt und bis zum Lebensende beibehalten werden. Das ist nicht leicht und zeitlebens eine große Herausforderung. Wir Menschen fallen zu Fuß, vom Fahrrad, von der Leiter, vom Pferd, vom Dampfer, von der Mole, beim Skifahren, die Treppe hinunter und hinauf undsoweiter, undsoweiter. Wir fallen in Eile, aus Unachtsamkeit, aus Schwäche, im Schwindel, weil der Kopf schneller ist als die Füße. Die Liste ist endlos. Auch ich habe spektakuläre Stürze hingelegt. Einige finde ich erzählenswert.

1. Der Milchkannensturz

Der erste Sturz mit dem Fahrrad, an den ich mich erinnern kann, geschah, als ich etwa zehn Jahre alt war. Ich hatte Milchflaschen in meinem Beutel, damals noch aus Glas, am Lenker meines Fahrrades hängen. Sie schlenkerten dort herum und es kam, wie es kommen musste. Der Beutel geriet in die Speichen, und aufgrund der abrupten Bremsung stürzte ich. Das war eine große Schweinerei, Flaschen kaputt, Glas zersplittert, aber Gott sei Dank war mir nichts weiter passiert. Ich war ja noch jung und biegsam.

2. Der Erdbeerkuchensturz

Eine Sportkameradin hatte mir erzählt, dass man einen Kuchen auch mit aufgetauten Erdbeeren belegen könnte. Bis dahin hatte ich noch nie Erdbeeren eingefroren. Mir schmecken sie frisch am besten. Aber die Vorstellung, zu einer Jahreszeit, in der es keine Erdbeeren mehr gibt, einen Erdbeerkuchen zu essen, gefiel mir. Also fror ich Erdbeeren ein, und eines Sonntags im Oktober buk ich einen Kuchen und belegte ihn mit den aufgetauten Erdbeeren. Bei herrlichstem Wetter stiegen mein Mann Dietrich und ich auf unsere Fahrräder, um meine Mutter zu besuchen. Sie wohnte nur neun Kilometer entfernt, und den größten Teil des Jahres besuchten wir sie mit dem Fahrrad. Den Kuchen hatte ich vorn in meinen Fahrradkorb gelegt, der aber nicht das richtige Format hatte, sodass der Kuchen immer leicht schräg darin hing. Während der Fahrt versuchte ich, ihn wieder einigermaßen gerade zu legen, damit der Erdbeersaft nicht auslief. Denn nun bekam ich den Nachteil aufgetauter Erdbeeren zu spüren: Sie produzierten beim Auftauen Wasser, und das Ganze wurde immer flüssiger. Die Fahrt ging eine Weile gut, einhändig und mit der anderen Hand den Kuchen richtend, bis es mich in einer Kurve zerriss. Das Fahrrad machte sich selbstständig und eierte auf eine Wiese neben dem Weg, der Kuchen und ich landeten auf dem Rasen. Hmm, was tun? Ich hatte mich Gott sei Dank nicht verletzt, mein Mann half mir auf, wir sammelten die verstreuten Erdbeeren und legten sie wieder auf den Kuchen. Eine Passantin, die mit ihrem Hund unterwegs war, half dabei. Dann fuhren wir weiter zu meiner Mutter, und der Kuchen wurde bis auf den letzten Krümel verputzt.

Aber seitdem habe ich nie wieder Erdbeeren eingefroren.

3. Der Kanonenkugelsturz

Da ich erst mit fast 32 Jahren das alpine Skifahren lernte, habe ich es nie zu großer Meisterschaft gebracht. Ich fahre aus Prinzip keine schwarzen Pisten hinunter. In unbekannten Skigebieten haben wir immer sorgsam die Karten studiert, um ja nicht aus Versehen mal auf eine schwarze Piste zu geraten. Aber wie es der Teufel so will: Eines Tages fuhren wir in Hochgurgl auf einen Berg mit der Absicht, eine rote Piste hinunter zu fahren. Oben angekommen, fuhren wir los und kamen an die Gabelung rot/schwarz. O Schreck: Die rote Piste war abgesperrt. Das war vorher nirgends kommuniziert worden. Nun blieb uns nichts anderes übrig, als die schwarze Piste zu nehmen. Die entpuppte sich als schmales vereistes Kanonenrohr, gerade breit genug, um einmal nach rechts und einmal nach links zu schwingen. Aber was tun? Dietrich fuhr voraus, ich schwang hinterher, und wahrscheinlich wäre alles gut gegangen, wenn er nicht stehen geblieben wäre, um nach mir zu schauen. Das brachte mich völlig aus dem Rhythmus und so hat es mich mal wieder zerrissen. Gefühlt 200 Meter kugelte ich den Hang hinunter, es gab kein Halten. Meine 1,82 Meter langen Skier lösten sich nicht, sodass ich mit den angeschnallten Skiern abwärts kullerte. Mein Glück war, dass unten ein Feldweg den Sturz stoppte. Da lag ich dann und fühlte erst mal in mich hinein. Es stellte sich heraus, dass ich heil geblieben war, nur die Hose war an der Naht geplatzt und ich hatte Prellungen an den Oberschenkeln. Aber ich stand auf, und wir fuhren weiter. Das hätte böse enden können, aber Glück gehört eben immer dazu.

4. Der Leitersturz

An unserer Grundstücksgrenze steht eine hübsche Felsenbirne. Zum Herbst hin bildet sie lange Triebe aus, die unbedingt geschnitten werden müssen. Also stellte ich die Leiter auf den Rasen und schnitt mit der Heckenschere die Triebe ab. Das wurde immer schwieriger, je weiter die Äste Richtung Nachbargrundstück wuchsen. Und so passierte es: Ich beugte mich weit hinüber, die Leiter versank auf der Seite im Boden und begann zu kippen und ich verlor den Halt. Meiner Erinnerung nach geschah das Ganze in Zeitlupe, war aber nicht aufzuhalten. Ich warf die Heckenschere in weitem Bogen von mir und landete rückwärts auf dem Rasen. Da lag ich dann wie ein Maikäfer, bestimmt fünf Minuten, und musste erst mal austesten, ob ich mich überhaupt noch bewegen konnte. Ich wiegte den Rücken vor und zurück und Gott sei Dank konnte ich aufstehen und es war nichts Schlimmeres passiert. Mein großes Glück war, dass just das Stück Rasen, auf das ich gefallen war, frei von Ästen war. Nicht auszudenken, wenn sich ein Ast in meinen Rücken gebohrt hätte.

Aber seitdem bin ich vorsichtig mit Leitern, meistens muss mein Mann die Leiter halten und so ein Gegengewicht bilden. Und wenn es auch nur psychologisch ist.

Es gäbe noch viele weitere ähnliche Begebenheiten, aber hier soll mein Bericht enden. Jedenfalls habe ich für mich Lehren gezogen: Ich hänge keine Beutel mehr an Fahrradlenker, ich friere keine frischen Erdbeeren mehr ein, ich begebe mich nicht uninformiert in gefährliches Terrain und dem Untergrund von Leitern schenke ich die notwendige Aufmerksamkeit. Pia Wolters, 10. März 2023